Donnerstag, 26. April 2012

Leserbrief

Joseph Joffes Betrachtungen vom 19. 04. 2012 Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen vom Handelsblatt! Als ich den heutigen Kommentar von JJ auf der letzten Seite Ihrer von mir überaus geschätzten Zeitung las, fiel mir etwas ein. Und zwar der Leitartikel, den JJ zu Beginn des Irakkriegs in der ZEIT veröffentlichte. Sinngemäss hat JJ damals erklärt, dass Deutschland die Schande, sich NICHT an der Kriegskoalition gegen Irak beteiligt zu haben, in vielen Jahren nicht gutmachen werde. Realpolitik konnte damals freilich argumentieren, dass Deutschland ohne die Bündnispartner USA und England (ohne "den Westen") auf einem gefährlichen Sonderweg sei. JJ deutete überdies ein moralisches Versagen an, das er der Regierung Schröder/ Fischer in schroffer Form vorwarf. Hinterher sind wir schlauer. Es gab keine WMDs im Irak. Neben dem erwünschten Resultat, der Eliminierung eines der Grausamkeit fähigen Diktators, traten unerwünschte Kosequenzen ein. Die Vernichtung der Streitkräfte des Irak machte den Iran zur regionalen schhiitischen Dominante. Eine schiitische Brücke vom Iran über Irak und Syrien bis in den Libanon realisiert sich in unseren Tagen. Diese Allianz zwingt die Sunniten ihrerseits zu einem Zusammenschluss: Die Türkei baut vor unseren Augen ihr altes Kalifat wieder auf. Zwei gigantische Machtblöcke marschieren gegeneinander auf. Dazwischen das kleine Israel, das von keinem dieser Machtblöcke Unterstützung zu erwarten hat. Realpolitisch lag wohl Joschka Fischer so ganz falsch nicht, als er Colin Powell in der UNO sein berühmtes "I am not convinced" entgegen schleuderte. Dennoch hat Ihr Gastautor JJ bis heute niemals (soweit ich weiss) ein Wort der Selbstkritik geäussert; und in dem heutigen Leitartikel schmäht er Joschka Fischer neuerdings: Als zynischen Heuchler. Ist es so, wie ich sage? Habe ich recht oder unrecht? Mit einem freundlichem Gruss von Ihrem Sie hochachtenden und hochschätzenden Leser - Michael Molsner

Freitag, 13. Januar 2012

Vor 35 Jahren Tod eines Unsterblichen

Der KING und ich
Von Michael Molsner

Wer die Lehrjahre des Gefühls in den 50er und 60er Jahren absolvierte, ist von Elvis mehr oder weniger geprägt oder mitgeprägt. Wir verdanken ihm mehr als seine Musik. Er hat eine Schneise geschlagen, die uns Ziele jenseits kleinbürgerlicher Vergatterung erreichbar erscheinen ließ.


Pardon me if I’m sentimental. Zur Scheidung wollte ich „ihr“ ein besonderes Geschenk machen. Mich durfte sie in ihrem neuen Leben vergessen. Die Gemeinsamkeiten der fast vierzehn Jahre aber, die wir miteinander verbracht hatten, sollten sie als Kraftquell begleiten.
Ich lebte damals, schon allein, in München. Einige Nachmittage verbrachte ich damit, die Schaufensterauslagen der Innenstadt abzusuchen. Schließlich kaufte ich zwei LPs mit Songs, die Elvis Presley in den Sun-Studios von Memphis/ Tennessee aufgenommen hatte.
Sagt nicht Bob Dylan irgendwo, die frühen Songs von Elvis zu hören sei wie ein Ausbruch aus dem Knast gewesen? Den Ausbruch hatten wir zustande gebracht, sie und ich. Wir hatten uns aus dem Knast deutschen Spießertums freigekämpft.
„Das ist es, was unsere Generation geleistet hat“, sagte ich, als ich ihr das Geschenk gab. „Halte es in Ehren.“ Diesen Kommentar hatte ich mir vorher nicht überlegt. Sie sah mich erstaunt an. Ich war selbst erstaunt. Die spontane Aussage stimmte mit meinem Gefühl überein. Etwas von unserer gemeinsamen Zeit sollte ihr bleiben und nicht verloren gehen. Das war mein Wunsch. Deshalb hatte ich mich für die LPs entschieden.

I wanna play house with you. In das Zusammenleben mit der Frau, die seither mein Leben teilt, wollte ich denkwürdig einsteigen. Beide hatten wir London noch nicht gesehen. Eine Woche London!
Eines Nachmittags besuchten wir das Grab von Karl Marx, eines Abends „Elvis“ – das Musical.
Auf dem Friedhof von Highgate konnten wir das Familiengrab zunächst nicht finden, ratlos und ärgerlich standen wir vor einem verschlossenen Gitter – bis ein freundlicher Gärtner uns belehrte, Karl Marx sei „in the republican sector of the cemetery“ begraben, vergittert sei nur „the feudal sector“. Erheitert orientierten wir uns um und erreichten endlich das bekannte Monument.
Abends in Soho erlebten wir den beinah unglaubhaft guten, damals noch kaum bekannten Shakin’ Stevens in der Hauptrolle des mittleren Elvis (es gab noch je einen Darsteller für den jugendlichen und einen für den späten Elvis). Der Regisseur ließ den wie unter Starkstrom agierenden „Shakin“ aus dem Boden der Bühne aufsteigen: rauchumhüllt, scheinbar direkt aus dem Orkus oder, wer weiß, aus der Hölle kommend!
Durch den Gag wurde überdeutlich, daß der Bruch mit Althergebrachtem, die Devianz, kulturstiftend ist. Wäre unsere Weltbewegung, die der akademischen Jugend von 1968, möglich gewesen ohne den Rock ‚n’ Roll der arbeitenden Jugend von 1954?
Das war so eine der Fragen, die wir aufgeregt in der Pause diskutierten.

Jailhouse Rock. Vor zehn Jahren nutzten wir eine Einladung ins Funkhaus Baden-Baden, um einige uns noch unbekannt gebliebene Denkmale der Revolution anzusteuern. Vermutlich wollten wir uns versichern, daß sie nicht, wie der Mainstream behauptete, versandet war – daß der große Maulwurf, wenn auch unmerklich, irgendwo unter unsern Schuhsohlen weiterwühlte.
Nachmittags standen wir in Assmannshausen vor einer Gedenktafel für Freiligrath, den 48er. Kennt man diesen Kollegen noch? „Deutschland ist Hamlet! – Ernst und stumm/ In seinen Toren jede Nacht/ Geht die begrabne Freiheit um/ Und winkt den Männern auf der Wacht...“ Im Vormärz geschrieben, 1844. Hamlet sieht das arme Gespenst, doch er zögert, es zu begrüßen. Vier Jahre später hat er zurückgewunken.
In Bad Nauheim standen wir am 20. Mai 1992 vor dem Haus, wo Elvis während des größten Teils seiner Militärdienstzeit wohnte. So einfach, so bescheiden hatte er es gehabt? Da glitzert und gleißt überhaupt nichts. Keine Villa. Ein Einfamilienhaus.
Das Haus ist Schauplatz des Kriminalromans KING, den Martin Schüller zum 25. Todestag im Kölner Emons Verlag herausbringt.
Im Jahr 1959, in dem der Roman spielt und Elvis hier wohnte, bereitete ich mich in München aufs Abitur vor, und die Frau, die in Bad Nauheim an meiner Seite stand, paukte im Duisburger Frau-Rath-Goethe-Gymnasium den Lehrstoff der Untertertia durch. Damals standen täglich zwanzig, dreißig, vierzig Mädchen in ihrem Alter und einige Jahre darüber da und warteten auf jenen besonderen „private“ der US Army, der alles andere war als privat: ein Weltstar bereits.
Und mehr als das. Er verkörperte eine rebellische Präsenz wie später Dutschke (der mit seinen Ideen weniger Aufsehen erregt hat als durch Auftreten, Aktionen und Erscheinung).

Shake, Rattle and Roll. Elvis in Bad Nauheim, das ist der Frosch im Bett der Prinzessin, das materialisierte Oxymoron, „a tarantula on a slice of angel food“ (Raymond Chandler). Als Sänger zersetzte er die Position der Rassisten, indem er ihren Kindern Negermusik verkaufte. Als gelernter Lastwagenfahrer erschütterte er den Überlegenheitsdünkel des Mittelstands, indem er gesellschaftliche Trends zu setzen wagte. Als ein betont junger Mann machte er die Autoritätsanmaßung der Senioren lächerlich, indem er sich halbstark frisierte, attraktiv anzog, frivol bewegte.
Hier in Deutschland war sein Angriff auf die ideologischen Positionen der Eltern und Großeltern von besonderer Bedeutung und Brisanz. Diese zwei Generationen hatten das Dritte Reich getragen oder ertragen. Dessen Imperialismus war nicht nur gescheitert, er war zuschanden geworden. Die Verwirklichung von Hitlers Zielsetzungen hatte aus Europa ein Trümmerfeld gemacht, materiell und moralisch.
Es waren unglaubwürdige Generationen. Wer sich von denen führen lassen wollte, sich ihnen gar zutraulich zu späterer Verwendung überließ, war bestochen oder bescheuert. Irgendwann hatte jemand auftreten müssen, der dagegen rebellierte. Unter denen, die es wagten, war Elvis 1959 der auffälligste. Er machte Bad Nauheim zur Weltbühne – in allerhöflichstem Ton. Yes Sir, Ma’am! sagte er und übertrat ansonsten alle Verbote, die in dem Kaff galten.

Got a lot o’ livin’ to do. “…refusing barriers – musical, racial, class – is what Elvis' best music is all about.” Das las ich dieser Tage bei dem amerikanischen Journalisten Charles Taylor. Im Roman wird herausgearbeitet, wie verzweifelt die Angegriffenen ihre Lebenslügen gegen diesen GI zu verteidigen versuchten. „Hottentottengetöse“ nennt der ermittelnde Kriminalkommissar die Musik. „...ich will dieses Negergeheul nicht“, fährt er seinen Sohn an, den er für abartig hält. „Zum wohl hundertsten Mal rechnete er an der Zeitspanne zwischen seinem Fronturlaub und Hans-Gerds Geburt herum. Sie kam ihm wie immer zu lang vor...“ Kein Fleisch von meinem Fleisch, meint er anscheinend. Und er ist einer der netten Deutschen! Ein Lichtblick in der Finsternis der Provinz.
Dem Ärger der Spießer trotzend, stellen sich junge Mädchen ans Gartentor des Hauses Goethestraße 14. Sie sind unter großen persönlichen Opfern gekommen, „aus einem Dorf bei Hannover. Eine Tante hat ihnen Arbeit in der Reifenfabrik besorgt.“ Dem Autor gelingt mit Katharina das einfühlsame Porträt eines Teenagers jener Zeit. Weder sie noch ihre Freundin Renate werden in diesem Roman denunziert. Gänse? So hätten die Spießer sie gern, um recht zu behalten. Allenfalls könnte man an die Gänse des Kapitols denken, die vor Gefahr warnen, denn eine Gefahr ist dieser junge Mann – für deutschnationale Honoratioren. „Uns hat man noch beigebracht, wie man sich zu benehmen hat.“ „Man kann sagen, was man will, aber in der HJ hat man wenigstens gelernt, was Disziplin ist.“ Damit ist es vorbei.
Übrigens wird auch der fortschrittliche, Sartre lesende Bildungsphilister nicht geschont. Ich habe beschämt gelächelt. Mehr oder weniger eingebildet auf unsere Bildung waren wir Oberschüler damals so ziemlich alle.

Got a lot o’ lovin’ to do. Im Zentrum der Handlung: Elvis, nicht weniger sensibel nachempfunden als die Mädchen. Ich meinte beim Lesen, ich stünde neben ihm und könnte ihn anfassen – was man aber natürlich nicht täte und nicht getan hat.
„Presley schrieb geduldig seinen Namen auf alles, was ihm entgegen gestreckt wurde: Fotos, Zeitschriften, Schallplatten. Bei Katharina und Renate blieb er etwas länger stehen, er sprach mit ihnen, sie zeigten ihm etwas aus Renates Mappe, und sie bekamen ein Autogramm darauf, dann küßte er beide auf die Wange. Als er sich dem nächsten Fan zuwandte, fiel Renate Katharína um den Hals, ihr Oberkörper wurde von Schluchzen geschüttelt. Katharina strich ihr sanft über den Rücken, aber Renate beruhigte sich nicht.“
Das ist aus der Perspektive eines CIA-Teams erzählt, der Gruppe KING, die das Geschehen vom Auto aus observiert und so heißt, weil sie den King vor Anschlägen schützen soll.
„Wo ist er hin?“ fragte Foster wieder.
„Ein Lichtstrahl kam aus den Wolken, und er ist zum Himmel aufgefahren. Zu schade, daß Ihnen die Sicht versperrt war.“
Summers suchte nach einer bequemeren Sitzposition. „Er ist wieder im Haus“, sagte er.
Der eigenartigste Aspekt von Presleys Karriere ist hier angedeutet. Elvis ist schon sehr früh nicht nur eine rebellische, auch eine spirituelle Präsenz gewesen. Zahlreiche Künstler, die an sich selbst und an Drogen gescheitert sind, werden verehrt. Da gibt es eine lange Liste: Judy Garland, Marilyn Monroe, Montgomery Clift, Jim Morrison, Kurt Cobain... Aber daß ohne weiteres angenommen wird, einer wohne bei Gott im Himmel, ist mir nur von Elvis bekannt.
Ich selbst kann ein Erlebnis zur spirituellen Dimension seines Nachruhms beitragen. Für die Authentizität verbürge ich mich. Es war nach seinem Tod und vor meiner Wiederverheiratung, als ich von einer sehr langen Menschenschlange vor einem Kino träumte, das ich besuchen wollte. Wegen der Warteschlange erschien es aussichtslos. Ich wollte schon aufgeben, als neben mir Elvis „erschien“. Mit der linken Hand nahm er meinen Arm, mit der rechten wies er vorwärts zur Kasse. Die Menschen, die mir den Weg versperrt hatten, wichen bereitwillig und sogar lächelnd beiseite. Niemand kam auf die Idee, Elvis daran zu hindern, mir diesen Gefallen zu tun. Ich bekam meine Karte, wollte mich bedanken – da war er weg. Ich wachte mit starkem Herzklopfen auf. Soviel ich weiß, habe ich nie stärker die Gegenwart eines übernatürlichen Wesens empfunden.

Double Trouble. Der Romanplot hat zwei Wurzeln, wie ein Backenzahn. Es gibt erstens einen Mordfall. Eine weibliche Leiche, ein junges Mädchen, dem Presleys Vater Vernon nachgestellt haben soll, wird im Wald gefunden. Der Bruder ist möglicherweise verantwortlich für Mordanschläge, die auf Vernon verübt werden. Die andere Wurzel gibt dem Krimi eine politische Dimension. Es scheint zeitweise, als wolle der sowjetische Geheimdienst Elvis liquidieren, weil er die Jugend der sozialistischen Länder verführe. Dieser Strang ist besonders spannend. Um ihn genießen zu können, sollte man wissen, daß die damaligen Führer des real existierenden Sozialismus tatsächlich derartige Befürchtungen äußerten. Was sie mehr beängstigt hat, Presleys rebellische Präsenz oder die spirituelle, wer weiß.
Der Mörder des Mädchens, ein Ostagent, hat sich in die Entourage von Elvis eingeschlichen. Er wird am Ende der 350 ebenso unterhaltsamen wie spannenden Seiten identifiziert. Doch er kann fliehen. Indem er das Idol als Geisel mitnimmt, gewinnt er einen Vorsprung. Die deutsche Polizei ist ratlos und die Gruppe King vor Angst gelähmt.
Hier treten die jugendlichen Fans des King ins Geschehen ein. Sie haben längst gemerkt, daß er in Gefahr war, haben aufgepaßt, und folgen nun dem davonrasenden Wagen. Was dann geschieht? Nachlesen!
Zwei Szenen in dem Buch finde ich meisterlich. Beide kurz. In der einen gesteht ein Polizist, daß er bei seiner Frau eine Abtreibung machen ließ. Eine Engelmacherin hat geholfen – deshalb sabotierte er, halb unbewußt, die Suche nach ihrem Mörder; sie ist das zweite Mordopfer des Romans.
Und das vorletzte Kapitel. Geschildert wird eine Werbung. Ein nicht mehr ganz junger und nicht mehr ganz frischer Mann will einer viel jüngeren, sehr hübschen Kollegin imponieren. Das ist umso überzeugender geschildert, als die Pointe – was er der zögernden Frau bietet, um sie zu betören – nicht auf dem Papier steht. Wir selbst konstruieren die Pointe während der Lektüre im eigenen Kopf.
Sonst ist es ein tadellos geschriebener, effektvoll gebauter Kriminalroman und Politthriller. Er endet in der Jetztzeit. Fans von damals sind 60 geworden und bleiben den Träumen ihrer Jugend treu - über den Tod von Elvis hinaus.

Loving you. Unser englischer Kollege Forsyth schreibt irgendwo, jeder wisse ungefähr, wo er war und was er tat, als er von der Ermordung des Präsidenten Kennedy hörte. Ich kann das bestätigen. Ich weiß außerdem, daß ich in meinem Münchener Apartment arglos das Radio andrehte, als ich etwa folgende Ansage hörte: This is AFN interrupting its regular program. Rocksinger Elvis Presley was found dead tonight in his home Graceland in Memphis, Tennessee. Millions of fans around the world are stunned with grief. – Dann spielten sie: I will spend my whole life through - loving you. Ich, 38 Jahre alt, fing an zu weinen.
Eine große Liebeskraft war, so schien es mir, aus der Welt geschieden. Ich hatte nicht den Eindruck, daß Ersatz leicht zu haben gewesen wäre.

Stuck on you. Soweit ich es beurteilen kann, ist Schüllers Roman glänzend recherchiert, die Atmosphäre von damals genau getroffen, die Romanhandlung in allen Einzelheiten aus den Umständen heraus entwickelt, wie sie tatsächlich waren. Aber bin ich gerüstet, das zu beurteilen?
Einmal fuhr ich mit einer Taxifahrerin, die eine Elvis-Cassette abspielte. Ich sagte selbstzufrieden, ich besäße wohl zwölf LPs von ihm oder mehr. Sie musterte mich mitleidig: etwa wie ein Millionär einen Kerl, der prahlt, er habe im Mittwochslotto 70 Euro gewonnen. Sie besitze fast alle seine Alben, insgesamt etwa 800 verschiedene Songs. Mehrfach aufgenommene mitgezählt, seien es nahe tausend. Etwas kleinlauter warb ich für mich mit dem Geständnis, es sei mein Wunsch, Graceland irgendwann zu besuchen. Sie erwiderte, sie sei acht Mal dort gewesen und entschlossen, künftig jeden seiner Todestage an seinem Grab zu verbringen.
Seither weiß ich, daß ich nichts weiß. Ich besitze einfach nicht genügend Literatur über Elvis. Nur drei Bildbiografien. Nur den ersten Band der definitiven Biografie von Peter Guralnick (Last Train to Memphis). Elvis and Me von Priscilla Beaulieu Presley. My Life with Elvis von seiner Sekretärin Becky Yancey. Elvis – von seinen Stiefbrüdern Billy, Rick und David Stanley. Elvis and the Colonel von Dirk Vellenga. Elvis, wie er wirklich war, von Red West und anderen Leibwächtern.
Von den verfügbaren Titeln sind das wenige. Zu meiner Entlastung bringe ich vor, daß ich den zweiten Band der definitiven Biografie von Peter Guralnick, Careless Love, soeben bestellt habe. (Inzwischen gelesen!).
Daß ich Videoaufzeichnungen seiner berühmtesten Auftritte besitze, ist selbstverständlich und nichts besonderes. Ich erinnere mich an eine Szene, die ihn nach der Vorstellung zeigt, wie er im Kreis seiner Musiker abspannt. Er legt einen sehr schnellen Gospelsong hin (O Lord, why don't you rock my soul) und macht Schluß mit den Worten: "Das ist alles, was ich drauf hab." -"Das reicht, das reicht", antwortet der Bandleader.
Es hat immer gereicht.

Montag, 21. November 2011

Über den Unterschied zwischen Tatsachenbericht und Fiktion

"...the best of his fiction is unique because it is not just one man's story. It is great art because of its range of possible meanings and effects. His finest fiction is vast, universal, open to interpretation, changeable and debatable, intentionally opaque, impersonal. It is ours, not his." Über den Unterschied zwischen dokumentierbaren Tatsachen in Biografien und den Romanen, die auf realen Erlebnissen aufbauen. In der Herald Tribune vom 14. 11. 2011, es geht um Hemingway und die vielen Bücher, die neuerdings nicht mehr von ihm, sondern über ihn erscheinen.

Samstag, 29. Oktober 2011

Gratulation zum Geburtstag

Wenn die Wahrheit gesucht wird, wie in der Kunst oder Literatur, dann ist nicht das zielführend, was von oben dekretiert wird! Ansprüche und Erwartungen sind Möglichkeiten für den Künstler, zu einem Auftrag zu kommen – aber Kunst entsteht nur dann, wenn er sein tatsächliches Erleben einbringen und es (innerhalb des Möglichen) frei verallgemeinern kann. In diesem Sinn hab ich heute ein paar Gratulationszeilen an Klaus Kamberger verfasst, der 71 geworden ist:

Wahrhaftiger Text entsteht nicht, wenn Erwartungen zynisch bedient oder Regeln befolgt werden, die ein Käfig sind; verständig genutzt werden sollten sie. Als wir westdeutschen Schriftsteller unsere Regeln von der Gruppe 47 und ihren Großkritikern bezogen, vom bürgerlichen Feuilleton also; und die Erwartungen von einem Publikum, das sich nach Rausch und Trauma im Dritten Reich lieber mit angelsächsischen Verbrechen beschäftigte als mit deutschen – da haben einige von uns Kriminalliteratur zu schreiben versucht, die diesseits des Bildungsbürgertums und seiner Stars, jenseits von Ablenkung spielte. In Taschenbüchern
haben wir privates Erleben, wie es sich in Gerichtssälen und Polizeirevieren spiegelte, veröffentlicht. Das wurde zunächst mit mehr Abwehr als Beifall aufgenommen. Der Spagat war auch schwierig. Die Unterhaltung sollte nicht im Ernst der Thematik untergehen, die Wiedererkennbarkeit nicht in Unterhaltung verflachen. Zu denen, die unsere Absicht verstanden und unterstützt haben, gehörte von Anfang an Klaus Kamberger, als Lektor zuerst, dann auch als Rezensent. Noch immer begleitet er unsere Wege. Heute wird er 71. Dank für vieles und herzliche Gratulation sendet, unverdrossenes Schaffen unterbrechend, einer der Gefährten.
Happy Birthday!

In diesem Zusammenhang ist mir aufgegangen, weshalb Benedikt XVI. keine Reformen „von oben“ dekretieren mag. Alles Verordnete wird zum Käfig. Freiheit der Entscheidung ist ein so wichtiges Gut, dass der Schöpfer – ich rede in Benedikt-Ratzingers theologischen Begriffen – sie um den Preis des Bösen erkauft und sogar der vormenschlichen Entwicklung Freiheit gelassen hat: um den Preis von Angst, Schmerz, Qual und Tod, einen unfassbar hohen Preis also.
Benedikt will nichts verordnen oder gar gebieten, auch nicht, was ihm richtig erscheint oder dem Publikum einleuchten würde. Dem Politbüro erschien es richtig, die Rolling Stones aus ihrer DDR auszusperren; der westdeutschen KP erschien es richtig, Arbeiterhelden im Roman zu fordern; unser Kaiser meinte, was er und seine Berater für Kunst hielten, sei es – und nannte Max Liebermann einen Gossenkünstler; alles Unsinn. Sie hielten für richtig, was falsch war, und wollten es per Verordnung und Gebot durchsetzen.
Was die Kirche alles erzwingen wollte an Falschem und Verkehrtem und sogar Entsetzlichem, ist ohnehin klar. Flammentod für soviele. Folter, Massenmord, Einschüchterung, Unterdrückung. Benedikt weiss: was er heute für richtig hält, muss es morgen nicht sein und kann übermorgen am Pranger stehn. Er will, dass wir unsere Freiheit nutzen: die Freiheit der Christenmenschen, von der Luther sprach. Recht hat der Papst und hatte auch der Reformator. Meint der Schriftsteller und Verfasser dieses Post.

Montag, 20. Juni 2011

P.S. zum Vorigen

Zum Vorigen ging mir angesichts von Wald und Wiese durch den Kopf, dass nach dem Krieg viele unserer Autoren sich der Natur zuwandten. Sie vermieden problematische Situationen während des Lebens im 3. Reich. Statt dessen wurden sie ontologisch: sie wandten sich dem zu, was sich nicht ändert. Das konkret schwierige Dasein fordert harte Entscheidungen ab. Das Sein kann, weil ewig, durch kleine Menschen wie unsereinen nicht verändert werden. Heldentaten wären sinnlos.

Ein Beispiel aus Wikipedia abgekupfert: "Karl Krolow, der aus einer Beamtenfamilie stammte, wuchs in Hannover auf, wo er das Realgymnasium besuchte. Von 1935 bis 1942 studierte er Germanistik, Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an den Universitäten in Göttingen und Breslau. "Krolow, der bereits seit 1934 der Hitlerjugend angehört hatte, trat 1937 der NSDAP bei.[1] Ab 1940 begann Krolow, Gedichte in Zeitschriften wie der Krakauer Zeitung, dem NS-Propagandablatt des Generalgouvernements, zu veröffentlichen. Ab 1942 ließ sich der Autor als freier Schriftsteller in Göttingen nieder. 1943/44 publizierte er auch in der nationalsozialistischen Wochenzeitschrift Das Reich.[1] ... 1952 zog Krolow nach Hannover, 1956 nach Darmstadt, wo er bis zu seinem Tode lebte. Bereits seit den Fünfzigerjahren galt Krolow als einer der bedeutendsten Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur." And so on. Er wurde überhäuft mit Ehren.

Oskar Loerke, Lektor bei Fischer vor und auch während der Hitler-Zeit, mag als Vater dieser Richtung gelten, er dichtete selbst:

"Mein Haus, es steht nun mitten/ Im Silberdistelwald. /Pan ist vorbeigeschritten./ Was stritt, hat ausgestritten / In seiner Nachtgestalt." So isses. Ich sag nicht, er hätte Menschenrechte vertreten und ins KZ gehen müssen! Das wär "moral insanity" (Enzensberger). Ich sag nur, dass mich die Wendung zur Ontologie in der Literatur stets argwöhnisch stimmt.

Weil es zu jeder Regel Ausnahmen gibt: Benns "Astern, schwälende Tage", Ezra Pounds "Be in me as the eternal moods" - ist klar. Aber der Pan von Loerke kommt mir vor wie eine Venus aus Kommissbrot. (Und dieses hübsche Oxymoron ist von Clemens Brentano).

Sonntag, 29. Mai 2011

Beim Betrachten alter Tatort-Krimis

Einmal Felmy, einmal Schwarzkopf und einmal Bayrhammer: gute Schauspieler ohne Zweifel, und doch wirken die Kommissare auf mich seelenlos. Sie haben keine spürbare Ausstrahlung, keine Persönlichkeit – nur ein Verhalten. Und zwar verhalten sie sich sachgemäss. Ein Verbrechen ist aufzuklären, sie bemühen sich darum, das kann nicht falsch sein. Sie haben ein Verhältnis zu ihrer aktuellen Aufgabe; sie haben kein Verhältnis zu sich selbst. Ich war sehr erstaunt, als ich das feststellte – hatte mit so einem Eindruck keineswegs gerechnet.

Beim Versuch der Annäherung an ein mögliches Verständnis fiel mir zunächst ein Gegenbeispiel ein. Ich dachte an Jean Gabin in Filmen wie „Maigret sieht rot“. Von Beginn an strahlt er ausser Sachkunde eine wie natürliche Autorität und Selbstgewissheit aus. Er verhält sich nicht nur zu den Gangstern, mit denen er es zu tun bekommt, nicht nur zu seinen Mitarbeitern, Kollegen, Rivalen – er verhält sich vor allem zu sich selbst. Jederzeit spüre ich, mit wem ich es zu tun habe. Eben das ist es, was ich bei Felmy, Schwarzkopf und auch Bayrhammer NICHT wahrnehme, denen fehlt es.

Mein Erklärungsversuch: Gabin verkörpert den französischen Kleinbürger in seinem Widerspruch, citoyen doch auch und nicht nur bourgeois. Er steht für eine Geschichte, die nicht nur die bekannten Greuel auflistet, auch die nicht minder bekannten Errungenschaften. Richelieus Academie Francaise, die Enzyklopädisten, die Revolution, der Code Napoleon, auf dem unser Bürgerliches Gesetzbuch basiert, de Gaulles France Libre: darauf darf Maigret stolz sein. Die dunklen Seiten muss er nicht verleugnen: Richelieus zynische Machtpolitik, die Missachtung der Aufklärer, die Grausamkeiten des Pöbels an der Guillotine, die Eroberungskriege des Korsen, die Kollaboration.

Maigret steht für das Ertragen, das Aushalten dieser Widersprüche – die seine Geschichte sind, auf die er dennoch stolz ist und es sein darf. Nicht als ob Maigret sich dessen bewusst wäre – er strahlt es aus wie von Natur, es ist ihm zur zweiten Natur geworden, ist seine Natur. Die es deutlich empfinden, sind wir, auch wenn er selber nie daran denkt.

Ganz anders Felmy, Schwarzkopf, Bayrhammer. Sie verleugnen ihre Geschichte. Halten ihre Vergangenheit nicht aus, nicht die Greuel, das wäre verständlich – aber auch die Errungenschaften nicht.

Das Massensterben in den Materialschlachten des Ersten Kriegs hat ihre Generation gelehrt, dass nur eines zählt, der Sieg – egal, wie er errungen ist. Hat man ihn einmal, sieht man weiter. Doch die Überlegung war falsch!

Man braucht, um Persönlichkeit auszustrahlen, die Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Wenn dieses Gefühl da ist und zu Recht da ist, dann spricht eine Niederlage, so bitter sie sein mag, das letzte Wort nicht. Wer hat gewonnen, Stauffenberg oder diejenigen, die ihn erschossen?

Die Kommissare gehören zur Generation der Verlierer. Verloren hatten sie, und zwar „alles“. Ihre Ehre? Das einzugestehen scheint unerträglich. War ungehorsam, wo Gehorsam keine Ehre brachte. Grabspruch eines Preussen. Sie haben gehorcht, als sie es nicht durften. Wir mussten, sagten sie nach dem Krieg, und so war es wohl. Hier steckt der Widerspruch. Gabins Maigret hält ihn aus; Felmys Haferkamp nicht; Schwarzkopfs Finke nicht; Bayrhammers Veigl - ? Die Rolle hab ich ihm geschrieben und frage mich schuldbewusst, ob ich ihm eine Persönlichkeit geben konnte. Eine Seele, nicht nur einen Job.

Glauben konnten sie nicht mehr. Mochten sich aber auch nie aufraffen, gute Erbschaft dankbar anzunehmen. Sie haben das Erbe in Gänze abgelehnt, der Saldo war negativ.

Ich hab sie erlebt. In Wirklichkeit hab ich sie erlebt. Entseelte Menschen, die nur noch das unmittelbar vor ihnen Liegende als Aufgabe erkannten. Nur keine Idee mehr, nie wieder einen Glauben. Bei Helmut Schmidt, dem bekanntesten deutschen Veteran , ging es soweit, dass er sagte: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Daher auch seine Ablehnung Willy Brandts. Der hatte Visionen, er wagte sie. Im Widerstand gegen Hitler zur Persönlichkeit gereift, stand er für eine Geschichte, die er nicht zu verleugnen brauchte. Erinnert ihr euch an den Kniefall in Warschau? Die Stadt ist wundersam wieder hergestellt worden – Hitlers Veteranen hatten sie als Trümmerfeld hinterlassen, da stand kein haus mehr und kein Stein auf dem andern. Brandt konnte sich dieser Tatsache stellen. Schmidt hasste ihn dafür, weil er selbst es nicht konnte.

Beunruhigend, dass Schmidt heute der angesehenste unserer Politiker ist und Brandt vergessen. Noch beunruhigender finde ich, dass wieder, wie nach dem Krieg, bloss Nächstliegendes als real anerkannt wird. Der Positivismus grassiert. Man ist stolz Cartesianer zu sein - ohne Philosophie. Auf naturwissenschaftliches Denken, ohne Naturwissenschaftler zu sein. Keiner wagt Vision. Entseelte Körper leben, aber strahlen nichts aus, keine Persönlichkeit – sie stehen für nichts und für nichts ein. So leben wir mit Gespenstern, an die Zeitgenossen glauben. Warum nicht, sie umgeben uns überall.

Menschen mit Ausstrahlung treffe ich selten. Gibt es einmal einen, dann wagt er kaum an sich selbst zu glauben, an seine Aufgabe, seine Kraft. Fühlt sich isoliert. Und ist es in aller Regel.

Wir befinden uns schon wieder in einer gefährlichen, hoch gefährdeten Phase unserer Geschichte. Wir glauben an nichts in unserer Vergangenheit, an nichts in der Zukunft. Wir, sage ich und meine: sehr viele von uns, die Mehrheit.

Der Coup muss gewagt werden, es koste was es wolle, meinte Henning von Tresckow. Aufs Gelingen kommt es nicht mehr an, nur noch darauf, dass wir den kommenden Generationen ausser dem materiellen nicht auch noch ein moralisches Trümmerfeld hinterlassen.

Es wäre hilftreich, wenn wir das Erbe annähmen – es nicht zwanghaft von uns wiesen mit Rationalisierungen wie: Zuerst haben sie Hitler geholfen, sie sollen nicht nachträglich schlau sein wollen. Das ist das unwichtige Argument, das man oft hört. Das wichtige Gefühl dahinter ist Ressentiment.

Ressentiments sollten wir bearbeiten, nicht in uns dulden.

Freitag, 15. April 2011

Nihil

Houellebecqs Interview im Spiegel hat mich schwer be ... eindruckt?, ja. Bedrückt auch. Er hält das Nichts für die einzig beachtliche Realität, Sinnlosigkeit für erwiesen. Und dass es ganz gleich ist, was einer tut oder sein lässt. Es ist mir einige Stunden lang so vorgekommen, als treffe das auf mich zu.
Von dem Houellebecq, den Houellebecq im Interview vor- und darstellte, ging eisige Kälte aus: wie vom Diavolo. Der muss unmenschlich kalt sein, sagt TM, um es dort auszuhalten, wo er wohnt.
Hat mir wohl Angst gemacht: Könnte es wahr sein?, mag ich mich gefragt – und mich gefürchtet haben.
„Die Revolution des Nihilismus“ – Buch von Rauschning. Inhalt: Die Nazis wollen nichts weiter als Macht um der Macht willen, sie wollen nichts weiter! Sie sind Tiere, die denken.
Ob Houellebecq ein Tier ist – verzweifelt deshalb, weil es, mit Vernunft begabt, seine (unsere) Gefangenschaft in der Situation zu erkennen meint?
Aber seit der Zeitwende hat die Zeit kaum Zeit gehabt, sich zu wenden. Es haben nur 100 Generationen seither am Werk sein können – wenn man pro Generation nicht 20, sondern wie üblich 25 Jahre rechnet, waren es nur 80. Das ist nicht genug, um Mensch zu werden.
Wir haben noch eine lange Wanderung vor uns. Das Unerwartete nicht zu erwarten, wäre unrealistisch. Sagt immerhin Hannah Ahrendt.
Houellebecq hingegen glaubt nicht, dass morgen alles anders sein kann. Dass die Zukunft offen ist und die Wirklichkeit vom Beobachter verändert wird. Er hat die Dekonstruktion der Realität durch die modernen Physiker nachvollzogen und, wie sie, nichts gefunden als Elementarteilchen. Davor war Energie: Und was das sein soll, weiss niemand, nur wie sie wirkt.