Montag, 22. Juni 2009

Die Bibel und ihre Gestalten: Unsereiner

Der Weg. Die ganze Welt weiss, wohin der Weg führte: zur Hinrichtungsstätte. Es wäre voraussehbar gewesen. Der hochbegabte junge Prediger hätte sich mit der im Land herrschenden Geistlichkeit, den Pharisäern, arrangieren können, wie Saulus aus Tarsus es zunächst tat. Er wäre der Monarchie unauffällig geblieben. Die Kolonialmacht Rom hätte ihn mindestens geduldet. Statt dessen hat der eloquente junge Theologe sich unter Umgehung der „Organe“ ans Volk gewandt.

Es konnte nicht ausbleiben, dass die machthabenden Interessengruppen alarmiert waren. Die Beteuerung, sein Reich sei nicht von dieser Welt, mochten sie glauben oder nicht. Klüger im Sinne der Machterhaltung war es jedenfalls, von Tatsachen auszugehen, und Tatsache war, dass viel Volk dem Wanderprediger zuströmte.

Einem Populisten abzunehmen, er sei nicht auf Machtergreifung aus, ist riskant. Herrschaftserfahrung denkt an den worst case, Verlust der Macht. Das ist nur klug.

Um den Demagogen auszuschalten, bevor er gefährlich werden konnte, tötete man ihn und wiederlegte gleichzeitig seine Behauptung, er könne die Welt erlösen. Am Kreuz hängend war die Botschaft, die von ihm ausging – von seiner Leiche – klar und aller Welt verständlich: Der junge Mann hatte sich übernommen. Nicht einmal sich selbst konnte er retten, die Welt dann schon gar nicht. Das alles würde in zwei Wochen vergessen sein. So die Schlussfolgerung. Keine andere erschien glaubhaft, oder auch nur möglich.

Die Wahrheit. Man muss kein Jude sein, um sich mit Gott zu verbünden. Kein Römer, um Anspruch auf Bürgerrecht zu erheben. Einmal ausgesprochen, leuchtete diese Botschaft unmittelbar ein. Sie war, nach Jeffersons schönem Wort, self-evident. Bedurfte keines Beweises. Der Glaube daran genügte, er wurde gespeist von einer inneren Gewissheit, die durch keine Bedrohung zu erschüttern und nicht wieder aus der Welt zu schaffen war.

Das Leben. Er habe den Tod besiegt, heisst es. Hat er nicht? Tennessee Williams soll gesagt haben, das Gegenteil von Tod sei Begierde. So behauptet Woody Allen, der ewige Jüngling. Man kann Leben aber auch anders definieren als Woody.

Lebendig sind diejenigen, die uns prägen, unsere Lebensführung beeinflussen oder gar bestimmen, mindestens mitbestimmen. Will jemand behaupten, Vincent van Gogh sei tot? Seine Persönlichkeit ist uns erst nach seinem Körpertod wichtig geworden. Und wie ist es mit Anne Frank? Wenn ich ins nahe Krefeld fahre, parke ich in der Tiefgarage am Anne-Frank-Platz. Bei Fahrten nach Holland hinüber passiere ich nahe der Grenze einen Anne-Frank-Weg. Mit meiner Frau besuchte ich vor kurzem die Anne-Fank-Gedenkstätte in Duisburg. Rechtsradikale – hiess es – hätten den schwarzen Marmor verätzt. Wir legten eine Rose nieder. Anne ist „mitten unter uns“, auch sie.

Nicht von dieser Welt. Als Charles de Gaulle die versprengten Reste einer besiegten Armee vom Londoner Exil aus unter seinen Befehl rief, tat er es für La France éternelle. Für das ewige, das unzerstörbare, das ideelle Frankreich. Was damit gemeint war, wusste jeder. Das stets mögliche Frankreich. Es ist nicht irreal, nur weil es im Moment (noch) nicht existiert. De Gaulle ruft zum Kampf dafür auf und gibt damit der sich langsam um ihn sammelnden Schar eine Richtung, eine Losung, eine Fahne.

L’humanité éternelle ist kein geringeres Ziel. Wie es erreicht werden soll, weiss kein Mensch. Immer fehlt es an irgend etwas. Wie es de Gaulle an Soldaten fehlte, und an Geld, und an Reputation (zunächst): Der selbsternannte Befehlshaber hatte im Exil nichts zu bieten als den festen Glauben. Das reichte, damit hat er gesiegt. Damit und mit seiner Zuversicht. Seine erste Ansprache über das Londoner Studio der BBC beendete er mit den Worten: Nous ne sont pas seul – die er drei Mal sprach. Wir sind nicht allein. Wir sind nicht allein. Wir sind nicht allein. Der Mitschnitt ist vernichtet worden. Niemand bei BBC hielt den obskuren Franzosen für wichtig. Er war besiegt.

Besiegt war auch Stauffenberg, als ihn die tödlichen Kugeln trafen. Er hatte noch ausrufen können: Es lebe das heilige Deutschland! Ein Phantast ... Oder vielleicht doch realistischer als seine Gegner? Wessen Name wird noch genannt, wessen Leben beeinflusst unseres und prägt es mit?

Donnerstag, 18. Juni 2009

Die Bibel und ihre Gestalten: St. Joseph: Vater

Was bietet ein guter Vater? Schutz des heranwachsenden Lebens. Die Kirche St. Joseph in Duisburg-Wedau scheint, nach Anschlägen in ihren Schaukästen zu urteilen, darunter vor allem Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen zu verstehen. Die Vorstellung, Jesus von Nazareth wäre "abgetrieben" worden, hat in der Tat etwas Teuflisches. Dass alle Menschen "Gotteskinder" sind oder werden könnten, würde man ihre Geburt nicht verhindern, erscheint hingegen sinnvoll und human - andererseits gibt es und gab es in allen Gesellschaften, die wir kennen, Familienplanung. Und wenn junge Frauen auf sexueller Selbstbestimmung bestehen, heisst das noch nicht, dass sie Schwangerschaftsabbrüche befürworten. Sie wollen die Wahl haben. Nicht jede Schwängerung wird von einem Engel angekündigt.

Es scheint eine Aporie vorzuliegen, ein mit den Mitteln der Logik nicht auflösbarer Widerspruch.

Hier könnte die Radbruchsche Regel eine Hilfe sein. Gustav Radbruch war aktiver Jurist und Rechtsphilosoph. Er hat drei Grundsätze aufgestellt, die mit höchstrichterlicher Billigung bei uns in so widersprüchlichen (Rechts-)Fällen anzuwenden sind. Erstens: Rechtssicherheit ist die Voraussetzung allen zivilisierten Gemeinschaftslebens; deshalb ist das positive geschriebene Recht (hier: das von der massgebenden kirchlichen Autorität gesetzte strikte Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen) als verbindlich zu akzeptieren. Zweitens: Dieses Prinzip muss in verständiger Weise ausgelegt werden, sonst kommt Unsinn heraus - wie das Beispiel Michael Kohlhaas zeigt, der auf seinem Recht besteht und auch Recht bekommt und trotzdem nicht "richtig" handelt. Drittens: Gesetztes Recht, das offenkundig nicht Gerechtigkeit will, sondern Ungerechtigkeit, ist gar kein Recht.

Mit dem moralischen Gebot, werdendem Leben mütterlichen und väterlichen Schutz zu bieten, muss verständig umgegangen werden. Sonst kommt dabei heraus, dass jungen Leuten, die Pech gehabt haben, eine Vorschrift gemacht wird, die sie erdrückt. "Papa don't preach" singt Madonna. Barsch verabreichte Prinzipien sind weder hilfreich - noch gerecht. In diesem Zusammenhang weise ich auf www.Priesterkinder.com hin. Man kann sich da in eine Unterschriftenliste eintragen, die für die Kinder katholischer Priester eine Gleichstellung mit anderen Kindern einfordert.

Zum Schluss möchte ich sagen, dass ich St. Joseph als die Verkörperung beschützender Väterlichkeit für eine bedeutende Gestalt halte. Ich bewundere und ehre ihn.
Stünde er in dem hohen Ansehen, das er verdient, so hätten die Raubkapitalisten gezögert, sich das Vermögen ihrer Kunden anzueignen. Sie haben Väterlichkeit für - uncool gehalten.

Dienstag, 16. Juni 2009

Generation Nix - Brief an einen Weggefährten

Lieber H.,

"Wer die Geschichte kennt, versteht die Gegenwart und kann die Zukunft meistern." Das lese ich auf eurer Homepage. Hatte ich auch immer geglaubt, bin aber im Moment etwas orientierungslos. Ernst Blochs Anregung folgend, suche ich in der Gegenwart nach Tendenzen, die zu unterstützen sich lohnen würde, und finde keine. Das Proletariat war für Bloch, wie für alle Marxisten, der Hebel, mit dem sich die Tür zur Zukunft aufstemmen lässt. Aber aktuell sind die Proletariate der entwickelten Länder in die Defensive gedrängt. Auch eure Homepage klingt defensiv: gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus usf. - okay. Das unterschreibt jeder anständige Mensch. Aber wofür könnte man sich einsetzen? Die transatlantischen und transpazifischen Megacities stecken sicherlich voller Explosivstoff. Aber es sind keine klassenbewussten Arbeiterschaften, die da auf ihre/ unsere Stunde warten, es ist "Lumpenproletariat" (Marx), und sehr gefährlich.

Die Zukunft erscheint mir - im Moment - ziemlich düster. Politisch betätigen will ich mich und frage nicht: wogegen, sondern: wofür? Mit wem?
Nun sagt ja irgendein kluger Mensch, wenn man nicht weiss, was man tun und wo man anpacken kann, soll man einfach abwarten, bis man klarer sieht. Ist allerdings nicht sehr kurzweilig :-(.

In diesem Zusammenhang ist die Titelstory des aktuellen SPIEGEL erhellend - oder eben nicht. Da wird danach gefragt, was die 20-35jährigen als Generation verbindet. Antwort: nichts. Es ist eine Generation von Gleichen, gemeinsam haben sie das Internet, und vor ihren Bildschirmen hocken sie als Vereinzelte. Entsolidarisierung ist der Befund des SPIEGEL.

Im Allgäu lohnte es sich, für die SPD zu kämpfen, das war die vorderste Front der Aufklärung. Hier im Ruhrgebiet sehe ich keine solche Front.

Schau dir, wenn du Lust und Zeit hast, meine Blog-Beiträge an. Ich blogge erst seit wenigen Tagen! Kommentare sind erwünscht!! Tragen zur Belebung bei.

Samstag, 13. Juni 2009

Parteien und ihre Apparate

Meine Partei hat bei den Europawahlen nicht zugelegt. Sie ist enttäuscht. Die führenden Kräfte sagen: Jetzt heisst es Ärmel aufkrempeln! Jetzt wird in die Hände gespuckt. Wir müssen jetzt noch mehr auf die Wähler zugehen.

Auf die Wähler irgendwie zugegangen sind sie aber seit Jahrzehnten nicht mehr. Besonders bei Europawahlen, aber auch bei allen anderen Wahlgängen, ist eines offensichtlich: Niemand ist den Führenden meiner Partei so fremd und so egal wie die Wähler oder - wie sie gern sagen - die Wählerinnen und Wähler.

Wichtig ist der Apparat. Wer dazu gehört, wird bei jeder Wahl auf einen vorderen Listenplatz gehievt. Es können Menschen sein, die dem Wählervolk so unbekannt sind wie Martin Schulz, Spitzenkandidat der SPD bei der Europawahl. Würden Sie ihn auf der Strasse erkennen, wenn er vorbei ginge? Ich nicht. Meine Frau auch nicht. Von meinen Bekannten nicht einer. Aber der Bundesvorsitzende sagte nach der Wahlschlappe, Martin Schulz habe hervorragende Arbeit geleistet.

Es ist der Apparatismus, der so bizarre Vorgänge zeitigt. Zu jeder xbeliebigen Wahl wird aufgestellt, wer eine parteiinterne oder parteinahe Organisation hinter sich hat. Sagen wir, die Gewerkschaftsbosse des Bezirks. Sie setzen ihren Kandidaten durch. Ungefähr seit 1985 möglichst eine Frau. Diese Frau muss allerdings von der Parteibasis bestätigt werden, den Ortsvereinen. Sie besucht deshalb alle Ortsvereinsversammlungen, die meist langweilig sind, spricht dort im Sinne der Gewerkschaft und vertritt deren Interessen, und singt Lieder zur Klampfe. Dem Wählervolk bleibt sie unbekannt, doch die Wähler haben keinen Einfluss auf die Besetzung der vorderen Listenplätze.

Wichtig ist ausserdem, dass diese Frau guten Kontakt hält zur nächsthöheren Führungsebene - in der Regel wieder eine Frau mit bestimmten Machtinteressen. Gelingt das, hat unsere Kandidatin es geschafft. Empfohlen von der - sagen wir - Landesvorsitzenden, unterstützt von der Gewerkschaft des Bezirks, und bestätigt von den Ortsvereinen, weil sie so nett Klampfe spielt und dazu singt, landet sie auf einem "sicheren" Listenplatz und rückt ins Parlament ein.

Das Wählervolk fragt sich ratlos, wer diese Frau sein mag und wofür sie steht. Gesehen oder kennengelernt hat die Öffentlichkeit sie nur als Gesicht auf einem Plakat mit einem Namen, den man vergessen hat.

Leider hat die Partei auf diese Weise wieder Wähler verloren. Macht nichts: Jetzt heisst es Ärmel aufkrempeln, in die Hände spucken und auf den Wähler zugehen. Hausbesuche? Obama zum Vorbild nehmen und das Internet endlich intensiver nutzen? Es gibt viele Möglichkeiten. Nur eine Möglichkeit gibt es nicht: die tödliche Krankheit des Apparatismus zu heilen. Der Apparat ist dagegen. Er hat hervorragende Arbeit geleistet.

Grausamkeits-Duselei

Im Radio lief eine Sendung, da wurde jungen Frauen eine Art Sucht nach blutrünstigen Grausamkeiten in der Kriminalliteratur nachgesagt. Die Verlage würden sich darauf einstellen, und die Buchhändler würden von Kindergärtnerinnen-Romanen sprechen.

Ein Kenner der Szene bestätigte es. "Ja, Kitatanten- oder Krankenschwester-Krimis. Weil man (ungerechterweise) unterstellt, dass gerade diese Frauen aus sozialen Berufen und so harmlos aussehend, eine rabenschwarze Fantasie haben und sich mit großer Freude an Schilderungen von Obduktionen und brutalsten Gewaltverbrechen ergötzen. ("Uihhh, ich konnte da kaum wieterlesen, echt hart war das!")

Es ist eine "Welle", denke ich - ähnlich der Fresswelle nach den Hungerjahren vor 1950 oder der Porno-Welle danach. Wenn ein harmloses Filmchen wie "Die Sünderin" schon zum Skandal aufgebläht wird, macht man Softpornos über angebliche Schulmädchen zum Publikumsrenner. Seitdem es genügend Lebensmittel zu kaufen gibt, essen Vernünftige nur soviel, wie sie vertragen; und nachdem Sexualität nicht mehr tabuiert ist, sind pornografische Produkte ein Minderheitenprogramm.

Ähnlich denke ich mir die Entwicklung der Blutwelle. Sobald jungen Frauen, auch in Betreuungsberufen, das natürliche Mass an Aggressionen zugestanden wird, ist ein Abebben der Welle zu erwarten. Wie lang müssen wir darauf warten? Erfahrungsgemäss laufen solche Wellen etwa im Verlauf einer Generation aus, also innerhalb eines Vierteljahrhunderts. Kann nicht mehr lang dauern bis zum Wendepunkt.

Freitag, 12. Juni 2009

Anne Frank - einer grossen Kollegin zum 80. Geburtstag

Kaum jemand erwähnt anlässlich ihres Geburtstages, dass sie eine bedeutende und hochbegabte Schriftstellerin war. Mit zwölf und dreizehn Jahren bereits ist sie fähig, ihre widersprüchlichen Gefühle authentisch wahrzunehmen und darüber zu berichten. Die Pubertät einer heranwachsenden jungen Frau ist meines Wissens vorher nur von der Gräfin Reventlow authentisch beschrieben worden, in ihrem ersten Roman "Ellen Olestjerne". Und die Gräfin hat das Buch als Erwachsene verfasst! Anne Frank ist nicht nur wegen ihres Schicksals, auch ihrer literarischen Leistung wegen weltberühmt geworden. Das wird zu selten erwähnt. Aber es ist so! Anne war ein Wunderkind der Literatur, eine Hochbegabung - wie Mozart in der Musik. Sie würde nicht wollen, dass das verschwiegen, und dass ihr enormes, einzigartiges Talent vom historischen Gewicht des Holocaust erdrückt wird. Ihrem Schicksal nicht nur, auch ihrem Werk sollten gerade wir Autoren und Publizisten Ehre erweisen. Gratulation zur einer Riesenleistung, Anne!

Mittwoch, 10. Juni 2009

FAZ u.a.: Mobilmachung gegen die Moderne

In ihrer Kampagne gegen die Moderne (siehe meinen Post Max Frisch) fährt die FAZ nun wahrhaft schweres Geschütz auf: den in jeder Hinsicht gewichtigen Peter Sloterdejk. Er unterstellt der Linken bereits in der Titelei eines laaaangen Aufsatzes, sie definiere Eigentum als Diebstahl. Im Text wird suggeriert, dies sei eine Kernlehre von Karl Marx. Das ist nicht wahr. Es sind die wütendsten Gegner von Marx innerhalb der Linken gewesen, die Eigentum als Diebstahl definiert haben: die Anarchisten. Marx entwickelt Theorien vom Mehrwert. Dieser wird in der industiellen Produktion, um die es ihm ging, nicht durch Diebstahl erzeugt (Wegnahme fremder beweglicher Sachen), sondern (vereinfacht ausgedrückt) durch Arbeit.

Sowohl Marx wie übrigens auch Lenin haben anarchistische Tendenzen in der Linken für gefährlich gehalten. Trotzkis bewaffnete Aktion gegen die postrevolutionären Anarchisten in Petersburg ist bekannt. Blut floss in den Rinnsteinen, berichtete ein Augenzeuge.

Sloterdejks Behauptung ist also sachlich derart unpräzis, dass sie als falsch bezeichnet werden kann. Warum tut er das?

Ähnlich sonderbar und zunächst unbegreiflich ist eine Schrift von Bischof Cordes, Köln, zur Psychoanalyse. Nicht nur wird Sigmund Freuds Lebensleistung niedergemacht; laut Rheinischer Post empfiehlt der Bischof sogar kirchliche Seelsorge anstelle von psychotherapeutischen Behandlungen. Das erinnert an radikale Sekten, die ihre Kinder an Blinddarmentzündung sterben lassen, statt sie operieren zu lassen.

Psychotherapien werden von Krankenkassen gewöhnlich dann verschrieben, wenn schwere körperliche Syxmptome offenbar psychisch verursacht sind, nicht organisch. Will der Bischof Herzrhythmusstörungen wegpredigen? Das kann er nicht. Weshalb sagt er dann so etwas? Hat die Kirche nicht schon an einem Galileo Galilei genug? Will sie sich demnächst noch einmal entschuldigen müssen?

Zuerst wird Max Frisch aufs Korn genommen, dann Karl Marx, schliesslich Sigmund Freud. Es erinnert mich an die Zeit ungefähr um 1967. Damals stand jeden Tag - buchstäblich - ein Artikel in der Zeitung und besonders oft in FAZ, der behauptete, dass Marx ein Scharlatan gewesen und seine Analyse der Kapitalbewegungen überholt, veraltet, ausserdem grundfalsch sei. Zu Beginn der Studentenbewegung besuchte ich, der diese Thesen für glaubhaft hielt, den Club Voltaire der Stadt, in der ich lebte. Ich fragte einen Assistenten Peter Brückners in herauzsforderndem und rechthaberischem Ton, was von Marx überhaupt noch lesbar sei. Er empfahl mir den 18. Brumaire des Louis Bonaparte.

Ich las das Bändchen im Freibad durch - und erlebte einen der schweren Kulturschocks meines Lebens. Der 18. Brumaire gehört zu den brillantesten Stücken essayistischer Prosa, die wir in deutscher Sprache kennen. Ich war belogen worden.

Aber warum solche Lügen, die durch zwei Stunden Quellenlektüre widerlegt sind? Damals hatten die Besitzenden Angst vor der weltweiten Rebellion ihrer eigenen Töchter und Söhne. Wovor fürchten sie sich jetzt? Die akademische Jugend hält still.

Werden die Studierenden wieder einmal aus der Stube heraus treten und uns zurufen: Ich bin nicht Stiller!? - Und ist es das, was die Besitzenden so fürchten?

Ich wage eine Schlussfolgerung: Der bedeutende Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, wird demnächst von seinen Verlags- und Redaktionsposten zurücktreten. Denn das kann er nicht mitmachen, er nicht. Bin ich naiv?

Freitag, 5. Juni 2009

Unser Hund Bommi

Zuerst fällt mir immer der wilde Taumel der Begeisterung und des Entzückens ein, mit dem er mich begrüsst hat, wenn ich nur mal auf wenige Minuten im Ladengeschäft um die Ecke gewesen war und wieder heim kam. Er hatte innerhalb unseres Staketenzauns bereits nach mir ausgeschaut. Sobald ich ungefähr hundert Meter entfernt in sein Gesichtsfeld trat, stiess er weithin hörbare, helle Laute des Entzückens aus und richtete sich am Zaun auf, wobei er die Pfoten auf die Querstäbe legte und den herrlichen Kopf zwischen zwei Staketen schob, um mir näher zu sein. Diese Haltung gab er aber sofort wieder auf, fiel auf seine vier Pfoten zurück und raste innen am Zaun entlang bis ans äusserste Eck, wo ich ihn zuerst erreichen musste. Fiel wieder zurück, rannte zum Gartentor, richtete sich dort auf, um mich da zu erwarten, wo ich eintreten würde, und sprintete wieder an die äusserste Ecke. Es war ein wahrer Tanz, den er aufführte. Jedes Mal, wenn ich heim kam. Selbst wenn ich nur zehn Minuten weg gewesen war. Passanten blieben stehen, staunten, sagten: Ist der süüüüss!

Aber süss haben wir unseren Bommi nie genannt. Schön nannten wir ihn, und das war er: ein Bild von einem Berner Senn Mix - der Mix stammte von einem Border Collie und gab ihm das Aussehen etwa eines Australian Shepherd. 33 kg, Langhaar, dreifarbig.

Bevor ich durchs Gartentor trat, kraulte ich schon von aussen seinen schönen Kopf, tätschelte seinen weichen Pelz, und sprach mit ihm. Das liess er sich gefallen, bis ich das Gartentzor hinter mir geschlossen hatte - dann raste er im schnellstmöglichen Tempo hinters Haus auf die Wiese, wo sein Ball und seine zwei Stöcke lagen. Er nahm einen Stock zwischen die Zähne, wedelte mit dem Schweif und sah mich erwartungsvoll an. Das Spiel konnte beginnen ... Vielmehr, es konnte nicht beginnen, denn sowie ich mich darauf einlassen wollte und mich seinem Stock auch nur näherte, knurrte er, zeigte die Zähne, verteidigte den Stock.

Das konnte er nicht: spielen. Hat es nie gelernt. Wir schoben es auf die schwierigen ersten Wochen seines Lebens. Als Welpe liess man ihn tagsüber wochenlang allein. Davon war ihm ein Arghwohn geblieben, den er nie ganz überwinden konnte. Meine Frau und ich haben jeder einen mehrmonatigen Trainingskurs in einem angesehenen Hundeverein mit ihm absolviert, holten uns dann noch Rat bei einer Tierpsychologin - doch eine aggressionsbereite Distanz wahrte er bis zum Schluss auch uns gegenüber. Wir haben gelernt, das zu respektieren.

Fast zehn Jahre haben wir ihn begleitet. Er hatte nie Grund, an unserer Fürsorge und Liebe ernstlich zu zweifeln. Allein gelassen haben wir ihn nur zwei oder drei Mal, wenn wir beruflich ohne ihn einige Tage verreisen mussten. Dann brachten wir ihn solange in einer guten Tierpension unter. Dort war er stets brav, sagte man uns hinterher - was uns freute.

Einmal, er war erst ein Jahr alt, musste er operiert werden. Ein Hüftknochen produzierte einen Zapfen, der ihn beim Laufen schmerzte. Als wir ihn nach der Operation und der unvermeidlichen Rehazeit von zwei oder drei Tagen aus der Klinik abholten, und ein Tierarzt ihn zu uns ins Wartezimmer führte, geschah folgendes:

Der Hund riss sich mit derartiger Wucht los, dass der Arzt stolperte und vor Schreck die Leine losliess. Unser Bommi warf sich mit einem Hechtsprung der Länge nach an meine Brust. Ich geriet ins Wanken und weiss heute noch nicht, warum ich auf den Beinen blieb und nicht hinstürzte. Als ich ihn umarmt und begrüsst hatte und zum Auto führte, warf er sich mit gleicher Wucht auf seinen Platz, die Rückbank.

Ich will zu meinen Grossen. Ich will heim. Wir haben es wohl verstanden und nicht vergessen, auch nicht in schwierigen Augenblicken.

Eine Arthrose, die sich mit leichter Empfindlichkeit in einer Voprderpfote anmeldete, wurde auf ärztlichen Rat mit Medikamenten gemildert. Sie halfen zunächst. In den letzten Wochen verschlimmerte das Leiden sich rapid und griff auf die Hinterhand über. Schmerzmittel dämpften nicht ausreichend, er lag nachts wach, mochte tagsüber nicht mehr laufen, sich weder vom Haus noch, wenn man mit ihm kurze Strecken fuhr, vom Auto entfernen. Der behandelnde Tierarzt und eine Fachärztin, die wir zusätzlich hörten, gaben denselben Rat. Es war der, den Hundehalter so sehr fürchten.

Wir haben immer dafür gesorgt, dass ihm nichts fehlte. Und auch jetzt fehlt ihm nichts mehr. Nicht einmal wir.

Aber er fehlt uns. Und wie er uns fehlt. Schlafen wird er unter der Zeder hinterm Haus, wo er gern an heissen Tagen Schatten suchte und oft tief gegraben hat - wer weiss wonach. Wie sehr gern würde ich sagen: Du wartest jetzt auf uns in der himmlischen Tierpension, da holen wir dich ab - wie wir dich immer überall abgeholt haben. Aber es wäre sentimental. Unseren Bommi gibt es nicht mehr. So ist das.

Nein, es gibt niemand mehr, der vor Begeisterung und Entzücken ausser sich gerät, wenn wir auftauchen. Menschen sind kritisch, sie haben dieses oder jenes auszusetzen, wissen das und das besser. Unser Hund aber war mit uns zufrieden, ich wage zu behaupten: er durfte es sein - meistens. Was bleibt, ist sein Bild, das ich aufrufen kann, sind Szenen wie sein Begrüssungstanz - und viele andere unvergessliche Erlebnisse. Wir tragen sie als Erfahrung in uns. Wir vergessen nichts.

Danke für alles, Bommi.

Dienstag, 2. Juni 2009

Stimmvieh zur Europawahl

Aus welchem Grund soll ich für einen Abgeordneten stimmen, den ich nicht kenne? Der sich nur alle vier Jahre auf Plakaten zeigt? Und dann umringt von der Prominenz seeiner Partei, für mich unerreichbar und unbefragbar?

Mir hat aus Berlin ein Promi der SPD namens Wasserhövel gemailt, ich soll für Martin Schulz stimmen. Dann folgt eine Liste von Forderungen, für die Schulz sich angeblich im Europa-Parlament stark macht; ich kann das glauben oder nicht. Tatsache ist, dass auch Martin Schulz mir eine mail geschickt hat. Es war der gleiche Formbrief, den auch Wasserhövel an mich adressiert hatte.

So wichtig also nimmt Martin Schulz mich als Wähler, dass er sich nicht mal die Mühe macht, seine Anliegen in einem eigenen Schreiben aufzulisten?

Auf CNN hab ich gehört - und ich zitiere aus dem Gedächtnis - ein Europa-Parlamentarier bekomme pro Monat (in Dollar rechnen die auf CNN) 15.000 an Diäten, 15.000 zusätzlich für Büro und Mitarbeiter, 7.000 für Spesen - dazu dann noch Freiflüge, freie Bahnfahrten, sicher auch Spritgeld.

Ein Fraktionsvorsitzender wie Martin Schulz bekommt mehr! Und für all dieses enorme Geld macht er sich nicht - wiederhole: nicht! - die Mühe, auch nur mal ein eigenes Brieflein an seine Wähler aufzusetzen oder auch nur aufsetzen zu lassen?

Das ist keine Hetze gegen die SPD. Soll ich CDU-Leute als Sachwalter des Besitzes wählen, FDP als Anwalt der Finanzwelt? Die Grünen? - aber ich bin als Mann geboren und nicht als Frau , und bei den Grünen hab ich als Mann schlechte Karten von vornherein. Die Linke also? Aber die wollen uns mit den Mitteln therapieren, mit denen die DDR zugrunde gerichtet wurde.

Wen also wähle ich? Eine ungefähre Richtung, die ich aber nur vermuten kann.

Weit wahrscheinlicher als Richtungsbemühen ist freilich, dass überbezahlte, in selbstgefälliger Arroganz verfettete MdE nicht etwa mir wohlwollen - die tun sich selber wohl in Strapsburg. Wir können allenfalls hoffen, dass wenigstens einige junge Damen (oder Herren) davon etwas haben, dass wir uns zu Stimmvieh degradieren lassen.

Max Frisch, Thomas Mann, Fontane, Goethe...

Der FAZ geht es aktuell um die Frage, wie authentisch ein literarisches Werk sein darf. Max Frisch, so wird behauptet, habe seine Tochter traumatisiert, indem er seine Erlebnisse mit ihr - seine Gefühle und Gedanken auch - in Texte einbaute. Der Autor wird als "grausam" und "kalt" bezeichnet. Tatsächlich war Max Frisch ein engagiert um Wahrhaftigkeit bemühter Autor, und die Frage kann nur sein, inwieweit Persönlichkeitsrechte solche Ambition dominieren dürfen oder sollen.
Durfte Goethe im Werther sein Dreiecksverhältnis mit Charlotte Buff und ihrem Bräutigam Kestner darstellen?
Durfte Fontane in Effi Briest einen tatsächlichen Fall thematisieren?
Hat Thomas Mann in Buddenbrooks nicht seine eigene Famiulie blossgestellt?
Und Max Frischs Tagebücher, seine Erzählung Montauk - wie steht es damit?

Offenbar haben Kinder bedeutender Autoren oft ein Problem damit. Thomas Manns Sohn Klaus hatte eins, obgleich er als August von Goethe in sehr verfremdeter Form Romangestalt wird. Seine jüngere Schwester Elisabeth nicht: über sie hatte Thomas Mann sogar zwei eigentlich unverschlüsselte Texte geschrieben, darunter die Meistererzählung Unordnung und frühes Leid.

Authentizität ist die Hauptforderung der europäischen Moderne. Wir glauben, fühlen, denken nicht mehr, was wir sollen - wir fragen danach, was wir tatsächlich glauben, fühlen, denken.

Wer ein Problem damit hat, der hat ein Problem - und sollte es nicht auf Autoren auslagern. Die hatten ihrerseits Probleme, ihre eigenen, merkwürdiger Weise.