Montag, 11. Oktober 2010

Integration, Desintegration

„Ich grüsse dich in allertieflichst Zugehörigkeit“, lese ich im letzten Brief meines Großvaters, Datum Weihnachten 1955. Die Schrift ist noch gut leserlich, aber korrekte Wörter hat er nach seinem Schlaganfall nicht mehr immer gefunden; das herzensnächste musste es tun. Er hatte mich an Vaters statt bis zu meinem zwölften Lebensjahr betreut, mich auf seinen Armen getragen, wenn ich krank war und Trost brauchte, mich auf unzähligen Spaziergängen mit den Dingen der Welt bekannt gemacht. Allertieflichst verbunden.
Den Brief hüte ich als kostbaren Schatz. Er beweist mir, dass ich in der Welt willkommen geheissen wurde.
Als Geschenk legte Grossvater ein Reisehandbuch bei: „Das südliche Ostpreussen“. Dort hatten wir die allerersten Jahre meiner Kindheit miteinander erlebt – soviel Schönes, dass seine Kraft zuletzt nicht mehr ausreichte, an alles zu erinnern.
Beim Durchblättern des Handbuchs fällt mir die für heutige Zeiten ungewöhnlich scharfe antipolnische Rhetorik auf. Deutschstämmige Ostpreussen waren damals grossdeutsch und evangelisch. Der slawische Teil der Mischbevölkerung war katholisch und großpolnisch orientiert. Die zwei Ethnien organisierten sich in Vereinen. Diese beschuldigten einander, von Geheimdiensten – reichsdeutschen bzw. großpolnischen – finanziert zu sein und beschimpften diese Quellen als trübe, finster und vergiftet.
Großvater wird die deutschnationale Rhetorik gebilligt haben, das Büchlein wäre sonst nicht durch Krieg und Flucht mitgeschleppt worden, um schliesslich bei mir zu landen – als Erinnerungsstütze.
Es erinnert mich vor allem daran, dass Großvater mich in seine Familie integriert hat, als ich keine andere hatte. Den geografischen, geistigen, sprachlichen Raum, in dem wir einander allertieflichst zugehörten, gegen Eindringlinge abzudichten, muss ihm natürlich und richtig erschienen sein.
Mich Schutzbedürftigen wollte er integrieren, bedrohliche Fremdlinge desintegrieren.
Im Dritten Reich aber hat er dann polnische Arbeiter, die in seiner Firmenfiliale für den Nazistaat arbeiten mussten, gegen Übergriffe abgeschirmt, wo es nur ging – nach Kriegsende bescheinigten sie es ihm, zur Vorlage bei den Besatzungsbehörden.
Integration und Desintegration haben sich im emotionellen Haushalt meines Großvaters nicht widersprochen. Sie entsprachen einander. Für ihn war das, obgleich er es anders formuliert hätte, eine dialektische Beziehung.
Wie oft mag blinder Hass die Rückseite vernarrter Liebe sein?

Von Berlin nach Allenstein fuhr man damals, das Handbuch ist 1934 erschienen, zehn Stunden mit dem D-Zug ohne Umsteigen, es kostete III. Kl. 27, 20 und II. Kl. 42,20. Eine Fahrt in der I. Kl. ist im Handbuch über das südliche Ostpreussen nicht vorgesehen.

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