Donnerstag, 28. Oktober 2010

Sauve qui peut

Nach einer Panikattacke im berüchtigten Zugangstunnel zur Duisburger Love Parade gestand eine Teilnehmerin quälende Schuldgefühle ein. Ihre Körperlichkeit hatte es ihr ermöglicht, andere beiseite zu schieben – ohne Rücksicht auf das Leben von Mitmenschen. Sie war nur noch aufs eigene Durchkommen aus gewesen. Das Trauma, auf einen Urinstinkt zurückgeworfen zu sein, liess sie nicht los. Ethische Regungen hatten keine Rolle gespielt. Rette sich wer kann hat gegolten.

Es ist Aufgabe der Politik, Situationen zu vermeiden, in denen wir auf unsere animalischen Instinkte reduziert sind. Wo ums nackte Überleben gekämpft wird, gerät Mitmenschlichkeit ausser Kurs. Sie gedeiht in Zivilisationen, nicht in der Barbarei.

Schon antike Philosophie wusste, dass Ethik die Rechtsgemeinschaft braucht. Ist Athen verloren, gibt es kein menschenwürdiges Leben mehr, wird Amoral zum Normalfall. „Law is where you buy it“, erkannte zweitausend Jahre nach Sokrates der Kriminalschriftsteller Raymond Chandler in Los Angeles. „You’re never sure whose belly it’s safe to jump on.“ Der anständige Mensch – Chandlers berühmter Privatdetektiv Philip Marlowe – wird zur bestaunten Ausnahme. Eine Märchenfigur, ausgegrenzt, einsam.

Man kann daraus verschiedene Schlussfolgerungen ziehen. Wo Korruption von den Eliten erwartet wird (Die zocken uns ab, hört man bei uns jetzt überall), tritt das Sittengesetz in den Hintergrund. Es wird vom Instinkt des Überlebens verschluckt. Wie lange leisten wir es uns, persönlichen Vorteil zugunsten unserer „Polis“ hintan zu stellen?

Kontaminierte Gemeinschaften – Rechtsgemeinschaften dem Buchstaben nach, Unrechtsgemeinschaften in der Praxis – fördern Gewissenlosgkeit und Verrohung. Sind freilich auch Nährboden der Unterhaltungsmedien.

Als die Deutschen ihren Eliten noch getraut haben, spielten deutschsprachige Spannungsromane in England und Amerika, oder wie bei Karl May in noch schwierigeren Gegenden. Das änderte sich 1968, als wir deutschen Krimi-Autoren das Zutrauen zu unseren Eliten verloren. Wir haben nicht Recht von ihnen erwartet, wir suchten nach Spuren von Unrecht bei ihnen. Wolfskämpfe waren unser Thema.

Sie sind jetzt weltweit das beherrschende Thema. In grossen Medienmärkten sind vor Weihnachten jede Menge Fernsehserien zu kaufen, für billiges Geld übrigens, zwölf Folgen auf einer DVD. Mord, Mord und Mord. In Amerika sollen Kinder nach einem Todesfall gefragt haben, wer den Verstorbenen umgebracht habe. Gewalt als Chiffre, versteht sich. Manch andere Verdrängungswettbewerbe sind mit gemeint.

Spannung. Unterhaltung. Gelegentlich einmal Kultur – wie bei Chandler.

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