Montag, 21. November 2011

Über den Unterschied zwischen Tatsachenbericht und Fiktion

"...the best of his fiction is unique because it is not just one man's story. It is great art because of its range of possible meanings and effects. His finest fiction is vast, universal, open to interpretation, changeable and debatable, intentionally opaque, impersonal. It is ours, not his." Über den Unterschied zwischen dokumentierbaren Tatsachen in Biografien und den Romanen, die auf realen Erlebnissen aufbauen. In der Herald Tribune vom 14. 11. 2011, es geht um Hemingway und die vielen Bücher, die neuerdings nicht mehr von ihm, sondern über ihn erscheinen.

Samstag, 29. Oktober 2011

Gratulation zum Geburtstag

Wenn die Wahrheit gesucht wird, wie in der Kunst oder Literatur, dann ist nicht das zielführend, was von oben dekretiert wird! Ansprüche und Erwartungen sind Möglichkeiten für den Künstler, zu einem Auftrag zu kommen – aber Kunst entsteht nur dann, wenn er sein tatsächliches Erleben einbringen und es (innerhalb des Möglichen) frei verallgemeinern kann. In diesem Sinn hab ich heute ein paar Gratulationszeilen an Klaus Kamberger verfasst, der 71 geworden ist:

Wahrhaftiger Text entsteht nicht, wenn Erwartungen zynisch bedient oder Regeln befolgt werden, die ein Käfig sind; verständig genutzt werden sollten sie. Als wir westdeutschen Schriftsteller unsere Regeln von der Gruppe 47 und ihren Großkritikern bezogen, vom bürgerlichen Feuilleton also; und die Erwartungen von einem Publikum, das sich nach Rausch und Trauma im Dritten Reich lieber mit angelsächsischen Verbrechen beschäftigte als mit deutschen – da haben einige von uns Kriminalliteratur zu schreiben versucht, die diesseits des Bildungsbürgertums und seiner Stars, jenseits von Ablenkung spielte. In Taschenbüchern
haben wir privates Erleben, wie es sich in Gerichtssälen und Polizeirevieren spiegelte, veröffentlicht. Das wurde zunächst mit mehr Abwehr als Beifall aufgenommen. Der Spagat war auch schwierig. Die Unterhaltung sollte nicht im Ernst der Thematik untergehen, die Wiedererkennbarkeit nicht in Unterhaltung verflachen. Zu denen, die unsere Absicht verstanden und unterstützt haben, gehörte von Anfang an Klaus Kamberger, als Lektor zuerst, dann auch als Rezensent. Noch immer begleitet er unsere Wege. Heute wird er 71. Dank für vieles und herzliche Gratulation sendet, unverdrossenes Schaffen unterbrechend, einer der Gefährten.
Happy Birthday!

In diesem Zusammenhang ist mir aufgegangen, weshalb Benedikt XVI. keine Reformen „von oben“ dekretieren mag. Alles Verordnete wird zum Käfig. Freiheit der Entscheidung ist ein so wichtiges Gut, dass der Schöpfer – ich rede in Benedikt-Ratzingers theologischen Begriffen – sie um den Preis des Bösen erkauft und sogar der vormenschlichen Entwicklung Freiheit gelassen hat: um den Preis von Angst, Schmerz, Qual und Tod, einen unfassbar hohen Preis also.
Benedikt will nichts verordnen oder gar gebieten, auch nicht, was ihm richtig erscheint oder dem Publikum einleuchten würde. Dem Politbüro erschien es richtig, die Rolling Stones aus ihrer DDR auszusperren; der westdeutschen KP erschien es richtig, Arbeiterhelden im Roman zu fordern; unser Kaiser meinte, was er und seine Berater für Kunst hielten, sei es – und nannte Max Liebermann einen Gossenkünstler; alles Unsinn. Sie hielten für richtig, was falsch war, und wollten es per Verordnung und Gebot durchsetzen.
Was die Kirche alles erzwingen wollte an Falschem und Verkehrtem und sogar Entsetzlichem, ist ohnehin klar. Flammentod für soviele. Folter, Massenmord, Einschüchterung, Unterdrückung. Benedikt weiss: was er heute für richtig hält, muss es morgen nicht sein und kann übermorgen am Pranger stehn. Er will, dass wir unsere Freiheit nutzen: die Freiheit der Christenmenschen, von der Luther sprach. Recht hat der Papst und hatte auch der Reformator. Meint der Schriftsteller und Verfasser dieses Post.

Montag, 20. Juni 2011

P.S. zum Vorigen

Zum Vorigen ging mir angesichts von Wald und Wiese durch den Kopf, dass nach dem Krieg viele unserer Autoren sich der Natur zuwandten. Sie vermieden problematische Situationen während des Lebens im 3. Reich. Statt dessen wurden sie ontologisch: sie wandten sich dem zu, was sich nicht ändert. Das konkret schwierige Dasein fordert harte Entscheidungen ab. Das Sein kann, weil ewig, durch kleine Menschen wie unsereinen nicht verändert werden. Heldentaten wären sinnlos.

Ein Beispiel aus Wikipedia abgekupfert: "Karl Krolow, der aus einer Beamtenfamilie stammte, wuchs in Hannover auf, wo er das Realgymnasium besuchte. Von 1935 bis 1942 studierte er Germanistik, Romanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an den Universitäten in Göttingen und Breslau. "Krolow, der bereits seit 1934 der Hitlerjugend angehört hatte, trat 1937 der NSDAP bei.[1] Ab 1940 begann Krolow, Gedichte in Zeitschriften wie der Krakauer Zeitung, dem NS-Propagandablatt des Generalgouvernements, zu veröffentlichen. Ab 1942 ließ sich der Autor als freier Schriftsteller in Göttingen nieder. 1943/44 publizierte er auch in der nationalsozialistischen Wochenzeitschrift Das Reich.[1] ... 1952 zog Krolow nach Hannover, 1956 nach Darmstadt, wo er bis zu seinem Tode lebte. Bereits seit den Fünfzigerjahren galt Krolow als einer der bedeutendsten Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur." And so on. Er wurde überhäuft mit Ehren.

Oskar Loerke, Lektor bei Fischer vor und auch während der Hitler-Zeit, mag als Vater dieser Richtung gelten, er dichtete selbst:

"Mein Haus, es steht nun mitten/ Im Silberdistelwald. /Pan ist vorbeigeschritten./ Was stritt, hat ausgestritten / In seiner Nachtgestalt." So isses. Ich sag nicht, er hätte Menschenrechte vertreten und ins KZ gehen müssen! Das wär "moral insanity" (Enzensberger). Ich sag nur, dass mich die Wendung zur Ontologie in der Literatur stets argwöhnisch stimmt.

Weil es zu jeder Regel Ausnahmen gibt: Benns "Astern, schwälende Tage", Ezra Pounds "Be in me as the eternal moods" - ist klar. Aber der Pan von Loerke kommt mir vor wie eine Venus aus Kommissbrot. (Und dieses hübsche Oxymoron ist von Clemens Brentano).

Sonntag, 29. Mai 2011

Beim Betrachten alter Tatort-Krimis

Einmal Felmy, einmal Schwarzkopf und einmal Bayrhammer: gute Schauspieler ohne Zweifel, und doch wirken die Kommissare auf mich seelenlos. Sie haben keine spürbare Ausstrahlung, keine Persönlichkeit – nur ein Verhalten. Und zwar verhalten sie sich sachgemäss. Ein Verbrechen ist aufzuklären, sie bemühen sich darum, das kann nicht falsch sein. Sie haben ein Verhältnis zu ihrer aktuellen Aufgabe; sie haben kein Verhältnis zu sich selbst. Ich war sehr erstaunt, als ich das feststellte – hatte mit so einem Eindruck keineswegs gerechnet.

Beim Versuch der Annäherung an ein mögliches Verständnis fiel mir zunächst ein Gegenbeispiel ein. Ich dachte an Jean Gabin in Filmen wie „Maigret sieht rot“. Von Beginn an strahlt er ausser Sachkunde eine wie natürliche Autorität und Selbstgewissheit aus. Er verhält sich nicht nur zu den Gangstern, mit denen er es zu tun bekommt, nicht nur zu seinen Mitarbeitern, Kollegen, Rivalen – er verhält sich vor allem zu sich selbst. Jederzeit spüre ich, mit wem ich es zu tun habe. Eben das ist es, was ich bei Felmy, Schwarzkopf und auch Bayrhammer NICHT wahrnehme, denen fehlt es.

Mein Erklärungsversuch: Gabin verkörpert den französischen Kleinbürger in seinem Widerspruch, citoyen doch auch und nicht nur bourgeois. Er steht für eine Geschichte, die nicht nur die bekannten Greuel auflistet, auch die nicht minder bekannten Errungenschaften. Richelieus Academie Francaise, die Enzyklopädisten, die Revolution, der Code Napoleon, auf dem unser Bürgerliches Gesetzbuch basiert, de Gaulles France Libre: darauf darf Maigret stolz sein. Die dunklen Seiten muss er nicht verleugnen: Richelieus zynische Machtpolitik, die Missachtung der Aufklärer, die Grausamkeiten des Pöbels an der Guillotine, die Eroberungskriege des Korsen, die Kollaboration.

Maigret steht für das Ertragen, das Aushalten dieser Widersprüche – die seine Geschichte sind, auf die er dennoch stolz ist und es sein darf. Nicht als ob Maigret sich dessen bewusst wäre – er strahlt es aus wie von Natur, es ist ihm zur zweiten Natur geworden, ist seine Natur. Die es deutlich empfinden, sind wir, auch wenn er selber nie daran denkt.

Ganz anders Felmy, Schwarzkopf, Bayrhammer. Sie verleugnen ihre Geschichte. Halten ihre Vergangenheit nicht aus, nicht die Greuel, das wäre verständlich – aber auch die Errungenschaften nicht.

Das Massensterben in den Materialschlachten des Ersten Kriegs hat ihre Generation gelehrt, dass nur eines zählt, der Sieg – egal, wie er errungen ist. Hat man ihn einmal, sieht man weiter. Doch die Überlegung war falsch!

Man braucht, um Persönlichkeit auszustrahlen, die Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Wenn dieses Gefühl da ist und zu Recht da ist, dann spricht eine Niederlage, so bitter sie sein mag, das letzte Wort nicht. Wer hat gewonnen, Stauffenberg oder diejenigen, die ihn erschossen?

Die Kommissare gehören zur Generation der Verlierer. Verloren hatten sie, und zwar „alles“. Ihre Ehre? Das einzugestehen scheint unerträglich. War ungehorsam, wo Gehorsam keine Ehre brachte. Grabspruch eines Preussen. Sie haben gehorcht, als sie es nicht durften. Wir mussten, sagten sie nach dem Krieg, und so war es wohl. Hier steckt der Widerspruch. Gabins Maigret hält ihn aus; Felmys Haferkamp nicht; Schwarzkopfs Finke nicht; Bayrhammers Veigl - ? Die Rolle hab ich ihm geschrieben und frage mich schuldbewusst, ob ich ihm eine Persönlichkeit geben konnte. Eine Seele, nicht nur einen Job.

Glauben konnten sie nicht mehr. Mochten sich aber auch nie aufraffen, gute Erbschaft dankbar anzunehmen. Sie haben das Erbe in Gänze abgelehnt, der Saldo war negativ.

Ich hab sie erlebt. In Wirklichkeit hab ich sie erlebt. Entseelte Menschen, die nur noch das unmittelbar vor ihnen Liegende als Aufgabe erkannten. Nur keine Idee mehr, nie wieder einen Glauben. Bei Helmut Schmidt, dem bekanntesten deutschen Veteran , ging es soweit, dass er sagte: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Daher auch seine Ablehnung Willy Brandts. Der hatte Visionen, er wagte sie. Im Widerstand gegen Hitler zur Persönlichkeit gereift, stand er für eine Geschichte, die er nicht zu verleugnen brauchte. Erinnert ihr euch an den Kniefall in Warschau? Die Stadt ist wundersam wieder hergestellt worden – Hitlers Veteranen hatten sie als Trümmerfeld hinterlassen, da stand kein haus mehr und kein Stein auf dem andern. Brandt konnte sich dieser Tatsache stellen. Schmidt hasste ihn dafür, weil er selbst es nicht konnte.

Beunruhigend, dass Schmidt heute der angesehenste unserer Politiker ist und Brandt vergessen. Noch beunruhigender finde ich, dass wieder, wie nach dem Krieg, bloss Nächstliegendes als real anerkannt wird. Der Positivismus grassiert. Man ist stolz Cartesianer zu sein - ohne Philosophie. Auf naturwissenschaftliches Denken, ohne Naturwissenschaftler zu sein. Keiner wagt Vision. Entseelte Körper leben, aber strahlen nichts aus, keine Persönlichkeit – sie stehen für nichts und für nichts ein. So leben wir mit Gespenstern, an die Zeitgenossen glauben. Warum nicht, sie umgeben uns überall.

Menschen mit Ausstrahlung treffe ich selten. Gibt es einmal einen, dann wagt er kaum an sich selbst zu glauben, an seine Aufgabe, seine Kraft. Fühlt sich isoliert. Und ist es in aller Regel.

Wir befinden uns schon wieder in einer gefährlichen, hoch gefährdeten Phase unserer Geschichte. Wir glauben an nichts in unserer Vergangenheit, an nichts in der Zukunft. Wir, sage ich und meine: sehr viele von uns, die Mehrheit.

Der Coup muss gewagt werden, es koste was es wolle, meinte Henning von Tresckow. Aufs Gelingen kommt es nicht mehr an, nur noch darauf, dass wir den kommenden Generationen ausser dem materiellen nicht auch noch ein moralisches Trümmerfeld hinterlassen.

Es wäre hilftreich, wenn wir das Erbe annähmen – es nicht zwanghaft von uns wiesen mit Rationalisierungen wie: Zuerst haben sie Hitler geholfen, sie sollen nicht nachträglich schlau sein wollen. Das ist das unwichtige Argument, das man oft hört. Das wichtige Gefühl dahinter ist Ressentiment.

Ressentiments sollten wir bearbeiten, nicht in uns dulden.

Freitag, 15. April 2011

Nihil

Houellebecqs Interview im Spiegel hat mich schwer be ... eindruckt?, ja. Bedrückt auch. Er hält das Nichts für die einzig beachtliche Realität, Sinnlosigkeit für erwiesen. Und dass es ganz gleich ist, was einer tut oder sein lässt. Es ist mir einige Stunden lang so vorgekommen, als treffe das auf mich zu.
Von dem Houellebecq, den Houellebecq im Interview vor- und darstellte, ging eisige Kälte aus: wie vom Diavolo. Der muss unmenschlich kalt sein, sagt TM, um es dort auszuhalten, wo er wohnt.
Hat mir wohl Angst gemacht: Könnte es wahr sein?, mag ich mich gefragt – und mich gefürchtet haben.
„Die Revolution des Nihilismus“ – Buch von Rauschning. Inhalt: Die Nazis wollen nichts weiter als Macht um der Macht willen, sie wollen nichts weiter! Sie sind Tiere, die denken.
Ob Houellebecq ein Tier ist – verzweifelt deshalb, weil es, mit Vernunft begabt, seine (unsere) Gefangenschaft in der Situation zu erkennen meint?
Aber seit der Zeitwende hat die Zeit kaum Zeit gehabt, sich zu wenden. Es haben nur 100 Generationen seither am Werk sein können – wenn man pro Generation nicht 20, sondern wie üblich 25 Jahre rechnet, waren es nur 80. Das ist nicht genug, um Mensch zu werden.
Wir haben noch eine lange Wanderung vor uns. Das Unerwartete nicht zu erwarten, wäre unrealistisch. Sagt immerhin Hannah Ahrendt.
Houellebecq hingegen glaubt nicht, dass morgen alles anders sein kann. Dass die Zukunft offen ist und die Wirklichkeit vom Beobachter verändert wird. Er hat die Dekonstruktion der Realität durch die modernen Physiker nachvollzogen und, wie sie, nichts gefunden als Elementarteilchen. Davor war Energie: Und was das sein soll, weiss niemand, nur wie sie wirkt.

Mittwoch, 13. April 2011

DICH SAH ICH

So lautet der Titel meines neuen Romans. Er erscheint diesen Herbst, der Oktober Verlag Münster bringt ihn heraus. Einem Männerkreis der ev. reformierten Kirche durfte ich ökumenisch Gesinnter den Roman erstmals vorstellen, hier die Reaktion:

"Der Männerkreis hatte das große Vergnügen einen renommierten Journalisten, Schriftsteller und Drehbuchautor begrüßen zu dürfen. Eine Lesung aus einem bisher unveröffentlichtem Roman hat für jede Seite eine Erwartungshaltung zu erfüllen. Die Ungewissheit, Neugierde wich schnellstens durch die Lesung einer Spannung. Das Grundthema trug den Titel >>Eine Sprache der Liebe<<. Dieses Thema in all ihren Facetten zu beleuchten ist an diesem Abend angerissen worden. Und zwar so angerissen, dass wir uns alle auf die Veröffentlichung des Romans zum Jahresende freuen. Dieser Abend hat uns allen erneut vor Augen geführt, dass in unserer von Katastrophen bestimmten Welt sich auch eine Verrohung der Sprache leider mehr und mehr durchsetzt. Einen solchen Abend werden wir auf alle Fälle wiederholen müssen, spätestens nach Erscheinen des Romans."

Würde mich sehr freuen. Gern.

Donnerstag, 24. Februar 2011

P.S. zu den Verrissen TMs

TM ist auch von wichtigen Vertretern der Generation nach ihm mit Vehemenz abgelehnt, ja verachtet und selbstverständlich schwer verrissen worden. Bert Brecht etwa und Tucholsky hielten ihn für käuflich, also für korrupt und regelrecht bestechlich. Benn fand Worte offener Verachtung ("diese Kuckucksuhr, die achtzig Jahre lang abschnurrt"). Der Grund dafür ging mir jetzt erst auf, als ich mich noch einmal mit diesen Ablehnungen des von mir verehrten Autors durch bedeutende Zeitgenossen, die ich ebenfalls bewundere, auseinander gesetzt habe.

Alle diese Autoren, also Benn, Brecht, Tucholsky, gehörten der Generation an, die von den "Vätern" - der Generation, der TM angehörte - in die Materialschlachten des Ersten Kriegs gehetzt worden waren. TM hatte wie viele andere Intellektuelle nicht gegen, sondern für den Krieg argumentiert, und das mit der ganzen, unerhörten Wucht seiner Sprache und Gedanken. Er hatte seine "Söhne" in einen Tod geschickt, den sie im Nachinein als sinnlos empfinden mussten.

Man kann die Wut dieser Autoren gegen TM nicht begreifen, wenn man das nicht versteht. "Vatermord" hiess eines der berühmtesten Stücke der Weimarer Zeit, geschrieben hat es Arnolt Bronnen, der eine von Goebbels inszenierte Demonstration gegen Thomas Manns Aufruf zur Einigkeit gegen die Nazis boykottierte und massiv störte.

Für Bronnen und seinen Freund Brecht, für Tucho und Benn war TM einer dieser verhassten, der Verachtung preiszugebenden "Väter". Tucho und Brecht standen links mit Tendenz zum Stalinismus (Brecht) und Lenin (Tucho), Bronnen und Benn rechts mit Tendenz zu Hitler (Bronnen) oder "Scholle) (Benn). Alle diese Autoren fanden übrigens für ihre Parteinahme, ob für Stalin oder Hitler, bewegende Worte. ("Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe, Östlich der Oder, wo die Ebenen weit"... Wenn Gottfried in die Harfe greift, vergesse ich seine Politik, da überläuft mich die Gänsehaut, die ich bekomme, wenn ein Meister spricht.

Im Nachinein scheint es kaum ein Argument zu geben, mit dem sich TMs damalige Haltung verteidigen liesse. However: Hugo Ball zB meldete sich freiwillig an die Front, Fanz Marc und August Macke ebenfalls. Ball desertierte, Macke fiel im ersten Kriegsjahr und Marc, glaub ich, im dritten. Marc hatte für seinen Freund und Künstlerkollegen Macke tief rührende Worte des Gedenkens gefunden: Eine Feindeskugel habe ihn da und da niedergestreckt, aber - so fuhr er fort - "eigentlich war es ja eine Freundeskugel, weil es eine französische war". Ich kann kaum die Tränen zurückhalten, wenn ich daran denke. Erwägt man, wieviel das Erlebnis der französischen Kunst (van Gogh, Gauguin, Cézanne usf.) diesen Malern bedeutet hat, kann man ermessen, was Marc meinte. Doch er glaubte, der Krieg sei Schicksal, und dem Schicksal dürfe man nicht ausweichen.

Was Tucholsky betrifft, er rediigierte an der rumänischen Front eine Propagandazeitschrift für die Luftwaffe - darüber hat er später nie gesprochen. Dass seine in "Schloss Gripsholm" verewigten Freunde Karlchen und Jakopp dort Militärpolizeiränge bekleideten, hat er ebenfalls nie erwähnt.

Damals hat sich manch einer geirrt. Und verirrt. Aus solchen Irrtümern zu lernen, das ist TM gelungen. Er fing 1930 an, die Nazis mit all seiner gewaltigen Rhetorik zu attackieren, und er rief das deutsche Büprgertum zum Bündnis mit Sozialisten und Gewerkschaften, mit "den Arbeitern" auf.

Brecht verachtete die Sozialisten ganz wie Stalin, den er andichtete. Tucholsky verachtete die Sozis derart, daass er den Reichspräsidenten Ebert einen Verbrecher nannte. 1932, als die Nazis noch keineswegs ganz Europa beherrschten, beschimpfte er TM noch immer, als dieser bereits seinen Kampf gegen Hitler und dessen Greuel aufgenommen hatte und als einziger deutscher Autor weltweit Gehör finden sollte mit seinem Plädoyer für das andere Deutschland.

Tucho, den ich sehr liebe, liebte mich nicht. Auch dich nicht. Er wollte mit den Deutschen nichts mehr zu tun haben, nicht mit den Hunderttausenden seiner Leser. Verachtungsvoll hat Tucho uns als hoffnungslos und für 1000 Jahre verbocht denunziert. Auch dich und mich! TM hat damals seine leidenschaftlichen Kämpfe für uns vorbereitet.

Was und wie er aus seinen Irrtümern gelernt hatte, ist am schönsten und besten (wie ich finde) bei Alfred Andersch nachzulesen. Ich glaub in seinem Buch, Nord und Süden, West und Ost - oder so ähnlich. Googelt selbst.

Dienstag, 25. Januar 2011

Antwort auf einen Verriss zweier Essays von Thomas Mann

Thomas Mann ist einer von zwei Autoren, die so schreiben, wie mein Herz schlägt. Er steht mir näher als andere, die ich auch sehr liebe und gut kenne. Deshalb bin ich bestrebt, buchstäblich alles von ihm zu besitzen und zu lesen. Als ich kürzlich der FAZ entnahm, dass er zwei bedeutende Essays verfasst hat, die ich noch nicht kannte - weil sie in den Essay-Bänden der Stockholmer Gesamtausgabe nicht enthalten sind - habe ich sofort bestellt und nachgekauft. Zuerst bekam ich "Nietzsches Philosophie im Licht unserer Erfahrung" als Suhrkamp-Sonderdruck von 1948, ein zeitgeschichtliches Dokument ersten Ranges und nicht nur von literarischem oder philosophischem Interesse. Danach bestellte ich Neue Studien, wieder bei Suhrkamp 1948, dieser Band enthält beide Essays, sie sind, wie gesagt, erst in der Nachkriegszeit bei uns erschienen; geschrieben und zuerst veröffentlicht wurden sie in USA.

Beide Essays halte ich für Meisterwerke, sie haben mich erschüttert und aufgewühlt.

Eben deshalb interessiert es mich, weshalb derart scharf absprechende Urteile möglich sind, wie sie in einem Online-Literaturforum veröffentlicht werden (http://135889.homepagemodules.de)
Ist das mehr ein "Gefühl", eine schwer zu definierende, instinktive Abneigung, wie wenn man jemand "nicht riechen" kann? Oder sind bestimmte Formulierungen gemeint? Oder ist es ein Widerstreben gegen Manns historische Tiefe, also den zeitgeschichtlichen Kontext ("was geht mich die deutsche Geschichte an, was hab ich mit Hitlers Verbrechen zu tun"? Und weshalb hat der Verfasser des Niederrisses den 60 Jahre alten, gar nicht überall erhältlichen Band überhaupt erstanden?

Übrigens ist mir so etwas wie instinktive Abneigung gegen bestimmte Autoren nicht unbekannt. Beziehungslosigkeit gegenüber auch sehr berühmten und besonders zu ihrer Zeit geliebten und verehrten Autoren kenne ich von mir selbst. Allerdings versuche ich dann zu verstehen, weshalb es mir nicht gelingt, mich von dem Autor angesprochen zu fühlen; manchmal bemühe ich mich ohne Erfolg darum und der Autor bleibt mir fremd, lässt mich weiterhin kalt. Bedeutende Texte bedeuten zu verschiedenen Zeiten und für manchen Leser Unterschiedliches.

Andererseits gilt mancherlei als gesichert. Thomas Mann war die Stimme des „anderen Deutschland“, und zwar die einzige, die weltweit gehört wurde. Besonders in den Essays und ganz besonders auch in denen der Neuen Studien spricht dieses andere Deutschland uns noch einmal an. Ich hab wie so oft wieder mit tiefster Liebe und Achtung, und auch mit Ehrfurcht gelauscht.

Der besonders absprechende Einwand - "Thomas Mann war, im Gegensatz zu seinem Bruder, ein ewiger Zuspätkommer, was die Politik angeht" - entspricht nicht den Tatsachen.

Carl von Ossietzky" in der Weltbühne vom 21. Oktober 1930: "Dank sei Thomas Mann, dass er aus der Reihe der schweigenden Geistigen heraustritt ... " 1930 war es noch an der Zeit und TM kein Zuspätkommer. Meint Ossietzky.

Bei den Reichstagswahlen vom September 1930 hatte die Nazipartei einen Erdrutschsieg errungen, mit 107 Abgeordneten (vorher 12) stellte sie plötzlich die zweitstärkste Fraktion nach der SPD. Da die KPD ebenfalls Zugewinne verbuchte und mit 77 Abgeordneten vertreten war, näherte das Parlament sich der Handlungsunfähigkeit. Man musste etwas gegen die drohende Gefahr unternehmen. Was kann ein Schriftsteller tun? Er setzt sein Wort ein.

Thomas Mann hielt eine Rede. Er rief in Berlin das Bürgertum, dem er sich zugehörig fühlte, zum republikanischen Bündnis vor allem mit der deutschen Arbeiterschaft auf.

Gauleiter Goebbels entsandte 20 SA-Männer zwecks Störung in den Saal, und der Autor Bronnen arrangierte lautstarke Zwischenrufe. Von da an bezeichnete die NS-Presse den Literaturnobelpreisträger von 1929 gern als "Halbbolschewiken" (so im Völkischen Beobachter). Nachdem 1933 Heinrich Himmler Polizeipräsident von München geworden war, wurde TM zur Verhaftung ausgeschrieben. Autor Johst beantragte ausdrücklich, TM eine „Sommerfrische in Dachau“ zu verordnen, nämlich die Einweisung ins KZ.

1930, als Thomas Mann seine Berliner Rede hielt, war „das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen", wie der Kritiker höhnt. Jedenfalls nicht nach Ansicht der Weltbühne und ihrer Autoren. Im Jahrgang 1930 ist nachzulesen, dass man Hitler und seine Partei noch für verhinderbar hielt. "Zum Pässebesorgen und Kofferpacken liegt gar keine Veranlassung vor. Um den Juden eins auszuwischen, müsste man die Verfassung ändern. Wo ist die nötige Zweidrittelmehrheit?" beruhigt "Quietus" (=Walther Karsch) die Leser der WB. 1930! Karsch war regelmässiger Mitarbeiter.

Thomas Mann durfte also noch hoffen, die Vernünftigen zu überzeugen. Ausser er wäre schlauer gewesen als zeitkundige Autoren der Weltbühne wie Ossietzky und Karsch.

"Entlaufen scheint die Menschheit wie eine Bande losgelassener Schuljungen aus der humanistisch-idealistsichen Schule des 19. Jahrhunderts, gegen dessen Moralität unsere Zeit einen weiten und wilden Rückschlag darstellt. Alles scheint erlaubt gegen den Menschenanstand". Die in den Phantasien der Reaktion abgeschaffte Freiheit erscheine "nun wieder in zeitgemässer Gestalt als Verwilderung", als "Emanzipation der Roheit"... Die „exzentrische Seelenlage einer der Idee entlaufenen Menschheit“ werde "zum Massenopiat des Dritten Reiches"... Der wörtlich benannte Nationalsozialismus wird einer Bewegung weltweiter Barbarei zugerechnet und gebrandmarkt, Stalins Rgeiment übrigens auch.

Die Deutschen dürften der Welt kein Beispiel von Narretei geben.

Undsoweiter, die Brillanz der Formulierungen sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass TM sich mit diesen Äusserungen in Lebensgefahr begab. Ebenso riskant formulierte er in anderen, noch folgenden Vorträgen und Aufsätzen, und zwar noch vor der "Machtergreifung" und nicht erst, als es zu spät war.

Von seinen Kindern beraten, kehrte er 1933 aus der Schweiz nicht nach Deutschland zurück Er entging so dem KZ. Auf Berman-Fischer hörend, der verzweifelt seinen Verlagsbesitz zu retten versuchte, und in ständiger Abstimmung mit den ebenfalls im Fischer-Verlag erscheinenden Hermann Hesse und Annette Kolb, zögerte er seine Solidaritätserklärung mit der deutschen Emigration hinaus bis 1936 – was ihm diejenigen nicht verzeihen, die sich ihrer moralischen Integrität in jeder, auch prekärster Situation völlig sicher sein dürfen.

Dass seine Kinder Zuwendung vermissten, ist der Kritik ein heftiges Ärgernis - und ein Grund, TM menschlich zu verabscheuen. Da wir alle unsere Kinder so erziehen, wie es sein soll und sein muss, dürfen wir in dem Maß stolz auf uns sein, wie TM sich hätte schämen müssen.

Die in Lieblosigkeit aufgewachsenen Kinder sind auf rätselhafte Weise dennoch charakterlich gediehen, jedenfalls haben Klaus, Erika, Golo Uniform angezogen und gegen die Nazis gekämpft, als es im Falle einer Gefangennahme sehr hässliche Folgen haben konnte. Vater Zauberer, weil lieblos, hätte Folterung und Hinrichtung seiner Kinder gewiss mit Gleichmut ertragen - ?

Eine Äusserung Enzensbergers aus seinem Buch über Hammerstein kommt mir in den Sinn: "Wer Leuten, die mit ihrem Leben bezahlt haben" - ich ergänze: mit ihrem Leben zu zahlen bereit waren - "aus ihren politischen Irrtümern einen Vorwurf macht" - ich ergänze: oder aus menschlichen Unzulänglichkeiten, deren wir keine aufweisen - "leidet an einer Form nachträglicher Besserwisserei, die von moral insanity nicht weit entfernt ist."

Die Äusserung, sag ich, kommt mir in den Sinn. Aber vielleicht ist sie ergänzungsbedürftig. Hass auch in der milderen Form der Abneigung entspringt oft rational schwer erreichbaren Prägungen. Meine Argumente zugunsten TMs sind zwar richtig (mit den Tatsachen übereinstimmend), doch letztlich stammen auch sie aus dem emotionellen Bereich. Es gibt nur einen anderen Autor, mit dem ich mich so intim verbunden fühle, es ist Raymond Chandler. Beide Autoren verbinden ganz starke Sinnlichkeit mit einer ebenso starken Verpflichtung für Verantwortung und Moral. TM liebte heranwachsende Jünglinge, aber er sagte, er würde nie einem solchen geliebten Wesen wehtun können oder wollen. Chandler war fasziniert, fast berauscht von weiblicher Schönheit, er hat sie gefeiert (The long Good-bye, die Stelle, wo er Ellen Ward zum ersten Mal erblickt, nicht nur "sieht"). Er sagt dennoch: Philip Marlowe (sein alter ego in den Romanen) würde nie eine Jungfrau verführen.

Wir sind Tiere unserer triebhaften Ausstattung nach - aber wir stehen als Menschen auch in einer vertikalen Spannung "nach oben" (Sloterdijk in seinem Tübinger Vortrag "Optimierung des Menschen?"

Noch ein Wort zu dem Einwand, TM habe nur für Eliten geschrieben. Meine Tante Lilo war eine einfache Frau, als Telefonistin immer knapp bei Kasse, daher bezog sie ihre Bücher vom Bertelsmann-Lesering, wo sie in Raten bezahlen konnte. Auf ihren Bord standen drei Romane von TM : Buddenbrooks, Königliche Hoheit, Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Alle drei hatte sie auch gelesen und sich über Verständnisschwierigkeiten nie beklagt. Ich selbst hab in der Schule den Krull vorgelesen gekriegt, und zwar liess der Lehrer uns das Kapitel vortragen, wo Krull sich zum Wehrdienst empfiehlt - zu empfehlen scheint. Wir lagen vor Lachen schier unter den Pulten. Soviel zum Elitrarismus.

Aber wie gesagt, kein Argument erreicht den emotionellen Bereich, aus dem auch meine Bemerkungen stammen. Dass ich es nur gestehe: Ich bin jung gewesen, als ich TM kennenlernte - und Benn, Brecht, Tucholsky ... und Chandler.
Ich verjünge mich, wenn ich sie aufschlage.

"Nicht sehr ergiebig im Gespräch, Ansichten waren nicht seine Stärke, Ansichten reden drumherum..." Benn folgend will nun auch ich meine Ansichten für mich behalten und euch die Diskussion überlassen.

Sonntag, 16. Januar 2011

Verhunzte Aufklärung

Die Trivialisierung des Göttlichen, dessen Verhunzung zu kleinbürgerlichen Wunschträumen, ist seit langem marktführend. Aus der Allmacht Gottes wird die von Superman, aus gottgewirkten Wundern ein Rückfall in plumpe magische Tricks: Harry Potter fliegt durch Wände. So hatte ich mir die Aufklärung nicht vorgestellt.

Andererseits wird das Böse mystifiziert, wird als unausrottbar und allgegenwärtig dargestellt: Serienkiller und Psychopathen gehen um in den populären Fantasien. Und in den Genres, die Wünsche bedienen (während sie von der Kunst problematisiert werden).

Der Trivialisierung und Profanierung des Göttlichen entpricht eine Mystifizierung des Teuflischen. Beides ist kleinbürgerlichen Ursprungs. Der Spiesser fingiert seine Allmacht und entschuldigt praktische Trägheit damit, dass er eh nichts ausrichten könne.

Sonntag, 9. Januar 2011

Kitsch und Kunst, Emotion nund Sentimentalität

Gestern in der Auslage eines Geschäfts für Kleinigkeiten sah ich eine offene Muschel, in der ein Knäblein schlief: Kitsch, das ist Niedliches ohne reale Existenz, kann sogar Schönheit sein, die keinen Realitätsbezug mehr hat.

Warum sind griechische Statuen schön und nicht etwa kitschig, obgleich es vollkommene Gestalten in der Wirklichkeit nicht gibt? Weil eine griechische Statue keine menschliche Gestalt meint, sondern eine göttliche. Der Marmor soll nicht die Wirklichkeit darstellen, sondern ein Ideal. Dieses Ideal allerdings hat sehr wohl Realität für den Griechen der Antike. Die Griechen lebten damals mit ihren Göttern und verehrten sie.

Van Gogh malt das Zimmer im Irrenhaus von St. Remis, in dem er Heilung von seiner Schizophrenie sucht. Für ihn ist dieses Zimmer real, die Schuhe einer Bäuerin sind es, Sonnenblumen, der drohende nächste Anfall, der sich in schwarzen Vögeln über einem goldenen Kornfeld ankündigt. Er malt nicht den Apoll, an den er nicht glaubt - auch keine Aphroditen, obgleich sie sich gut verkaufen würden, denn der Markt hängt am alten, am "klassischen" Schönheitsideal, und merkt nicht, dass es unwahr geworden ist. Nachgemachte Schönheit ist Kitsch. Nur Wahres ist schön.

Ähnlich ist es mit unseren Gefühlen. Wenn sie unwahr sind, nennen wir sie sentimental. Den Hurra-Patriotismus, der davon absieht, dass auch andere Völker Grosses geleistet haben. Das Schwelgen in Erinnerungen, die sortiert und absichtlich unvollständig sind. Schwärmerei ohne Rücksicht auf Konsequenzen.

Kunst will Wahrheit, Gefühl scheut sie nicht.
Kitsch vermeidet Wahrhaftigkeit, und Sentimentalität lügt bewusst.